Zur Schau gestelltes Desinteresse

Eine Geschichte aus der Pubertät, nicht unnötig aufgepeppt durch aufwendige Kamerafahrten oder Musik: Henner Winckler stellt heute im 3001 sein gleichermaßen beiläufig wie aufmerksam gefilmtes Debüt „Klassenfahrt“ vor

Am Stettiner Strand wirft er der Klassendicken die Nase blutig

von URS RICHTER

Ronny macht eine ähnlich traurige Figur wie seine Jeans. Kaum im Schulhotel angekommen, schließt er sich auf dem Balkon aus. Beim Rugbyspiel am Stettiner Strand wirft er der Klassendicken die Nase blutig. Zum Frühstück, nachdem sein Schwarm Isa mit dem Polen Marek in der Disco war, fällt ihm nichts besseres ein als: „Hab‘da jefickt?“ Beizeiten möchte man in die Leinwand springen und Ronny den Kopf gerade rücken. Oder ihm wenigsten die fussligen Koteletten barbieren, die Hose hochziehen und den Blick eines geprügelten Dackels austreiben.

So autoritär ist der Regisseur von Klassenfahrt, Henner Winckler, natürlich nicht – und gibt zu erkennen, dass derart offenkundige Gleichgültigkeit auch immer einem bestimmten Image dient: „Ich denke, dass man in der Jugend vieles als aufregend wahrnimmt, aber vorgibt sich zu langweilen, um bestimmte Sachen nicht an sich heranzulassen. Das zur Schau gestellte Desinteresse ist, glaube ich, häufig eine Attitüde, um nicht schwach auszusehen.“

Und so pflegt nicht nur Ronny seinen Ruf als Sonderling und weiß ihn gelegentlich aufzupolieren – im Völkerkundemuseum vor der Pfahlbautenvitrine führt er einen stilvollen Ugallalla-Tanz auf –, auch Wincklers Inszenierung setzt sich selbstbewusst ab von der Genrevorgabe Pubertätsfilm. Insbesondere übt sie vehemente Zurückhaltung hinsichtlich der Frage, von welcher Warte aus die „Jugend heute“ zu porträtieren sei.

Die Kamera ist einfach da bei ausgetanzten Hahnenkämpfen, beim Wettsaufen und Fummeln. Nicht zufällig, aber absichtsarm, vielleicht wie eine neue Klassenkameradin. Beim Freestyle fängt sie nicht an mitzuwirbeln, überm Wodka wird ihr nicht schwindelig, und unter Bettdecken kriecht sie auch nicht. Aber ein scharfes Ohr besitzt sie und registriert genau die schrägen Gefühlslagen, die in einem beiläufigen „Och nix, nur Smalltalk“ oder einem heiseren „Nee, wieso soll ich sauer sein?“ zum Ausdruck kommen.

Trotz dieser Diskretion vertraut Winckler stark auf das Schauspiel: „Mir war von Anfang an klar, dass die Auswahl der Darsteller einen großen Einfluss auf den Charakter des Filmes haben würde. Dass fast alles Laien sind, gibt dem Ganzen sicher etwas Raues und Unberechenbares, was dann als realistisch oder authentisch wahrgenommen wird. Mein Motiv, einen Film so zu machen, ist auch ein Interesse an dem, was ich um mich herum beobachte. Ich fand es interessant, zunächst das Erdrückende an dieser Reise zu zeigen, und deswegen wollte ich nichts durch Kamerafahrten oder Musik aufpeppen.“

Gezeigt wird zum Beispiel die Genügsamkeit der Zehntklässler, unverkennbar Berliner. Viel erlebt scheint hier niemand zu haben und viel erleben scheint niemand zu wollen. „Ein Praktikum vielleicht, in Amerika“ ist noch der exotischste Zukunftsentwurf. Nicht exotischer die nahe Vergangenheit: Im Gemeinschaftsraum läuft eine Folge Derrick, in der sich zwei Halbstarke um ein Mädchen prügeln, einer stirbt. Vergleichbare Lederjackensozialisation, vergleichbare Leidenschaft wäre bei Ronny, Isa oder Marek unvorstellbar. Am Ende von Klassenfahrt wird dann doch jemand tot sein und jemand anderes vielleicht ein Paar. Das Drama aber ist ohne entschiedenes Zutun der Figuren passiert.

„Es ging mir nicht in erster Linie um Ronnys Schuld, deswegen wollte ich eine uneindeutige Situation, die sich fast zwangsläufig aus anderen Situationen ergibt. Ich glaube, dass es ein übliches Verhalten ist, dass man sich vor Entscheidungen drückt und vieles erduldet, ohne dass man sich bewusst macht, dass man vielleicht etwas daran ändern kann. Im Film hat man meistens einen Typ, der weiß, wer seine Feinde sind, was er will und wie er das erreichen kann, und das ist doch häufig ziemlich langweilig. Ich glaube, dass man durch das Vermeiden von Entscheidungen dramaturgisch interessante Konflikte entstehen lassen kann.“

Bereits im Studium an der Hamburger Hochschule für bildende Künste hat Winckler in mehreren Kurzfilmen dieses dramaturgische Konzept von Klassenfahrt vorskizziert. „Ich hatte großes Glück, jetzt einen Film so realisieren zu können, wie ich es mir vorgestellt habe. Also unter professionelleren Bedingungen, mit Freunden, das weitermachen zu können, was man an der Hochschule angefangen hat. Mir hat auch die Freiheit, die einem das Studium an der Kunsthochschule bietet, geholfen, unkonventionelle Entscheidungen zu treffen.“

Preview mit Gästen: heute, 20 Uhr, 3001