Wenn „Vatta“ wieder zum Kind wird

Selten wurde im deutschen Fernsehen das Problem sozialer Verantwortung drastischer dargestellt: Eine idyllische TV-Familie droht allmählich unter der Last einer Krankheit zu zerbrechen: Götz George hat Alzheimer („Mein Vater“ 20.15 Uhr, ARD)

von JENNI ZYLKA

„Ich möchte mit diesem Menschen nie mehr unter einem Dach wohnen“, das sagt Jochen Esser (Klaus J. Behrendt) am Anfang wie selbstverständlich über seinen altmodisch-autoritären Vater Richard (Götz George). Der ist jedoch, wie Jochen und seine Frau Anja (Ulrike Krumbiegel) irgendwann zufällig auch mitbekommen, frühzeitig in den Ruhestand versetzt worden. Vorher war Vater Busfahrer, ein charmanter, fideler Grandseigneur, der nur in letzter Zeit immer öfter ein paar Haltestellen seiner Route ausließ.

Bis der robuste Arbeiter Jochen und seine Familie im Stress des neuen, selbst gebauten Eigenheims davon Wind bekommen, legt der Vater schon seine Morgenzeitungen in den Kühlschrank und klatscht als Tapezierhelfer die teuren Wandkleider quer gestreift anstatt längs gestreift in das Wohnzimmer seines Sohnes. Die Diagnose ist schnell gestellt: Der Vater leidet unter Alzheimer. Und so beschließen Jochen und Anja, den rapide abbauenden ehemaligen Silberrücken doch bei sich aufzunehmen, mitten ins gerade frisch gemachte Nest.

Alzheimer ist eine zwar medikamentös behandelbare, doch bis jetzt immer noch unheilbare Krankheit, zu der außer dem rührenden und schmerzhaften Verfall des Patienten die vielen Tabus gehören, mit denen sich die Familie (oder die Menschen, die sich kümmern) beschäftigen müssen: Was macht man, wenn ein erwachsener Mann sich nicht mehr ernähren kann, wenn man ihn nicht allein die Wohnung verlassen, nicht mal allein die Toilette aufsuchen lassen kann, weil er sich regelmäßig verläuft? Andreas Kleinerts Film zeichnet die Entwicklung des demenzkranken Richard und seiner Familie so realistisch wie möglich, geht ins Groteske, ins Unglaubliche, ohne dabei je unglaubwürdig zu werden: Wie sich die Rollen in der Familie Esser immer mehr verdrehen, wie der Opa zum Kind, das Kind (Jochens halbwüchsiger Sohn Oliver) unfreiwillig zum verständnisvollen Erwachsenen wird und Jochen selbst immer öfter an seiner unlösbaren Aufgabe verzweifelt. Anfangs versucht er, bestärkt von seiner Frau Anja, sich auf die merkwürdigen, krankheitsbedingten Ideen und Launen des Vaters einzustellen, wenn der verschwindet, sucht er ihn und holt ihn ab, wenn der sich vor imaginären Fremden in der Wohnung fürchtet, die sich als eigenes Spiegelbild herausstellen, verhüllt er die Spiegel. Dabei warten Jochen und Anja auf einen Pflegebescheid, denn sie können sich eine Unterbringung in einem passenden Heim weder leisten, noch möchten sie es dem (Schwieger-)Vater zumuten. Doch die für diesen Krankheitsverlauf typischen Katastrophen passieren, der Kranke beißt seinen Enkel, er legt Feuer – er wird zur Gefahr für die, die ihm eigentlich helfen wollen.

Es gibt nicht viele, jedenfalls nicht genug Filme über Alzheimer, diese weit verbreitete Krankheit, die fast immer Alte trifft und meist tödlich verläuft. Kleinerts Film, der sich auch in der Bildsprache langsam von einem unauffälligen Familienporträt zu einem Holt-mich-hier-raus!-Schrei verändert, ist eine der besten Arbeiten zu diesem Thema.

Die FamiliendarstellerInnen funktionieren untereinander hervorragend, sowohl die physischen Ähnlichkeiten zwischen Jochen und Richard oder Anja und ihrer Mutter als auch das Verhalten der Familie bis hin zum überaus crediblen Sohn (Sergej Moya). Kleinert hat die Keimzelle dermaßen gut beobachtet, dass man sich – selten genug in deutschen Fernsehfilmen – so gut wie nie fragt, wieso eine Figur eigentlich jetzt gerade das sagt oder tut, was sie tut; bis zum Ende. Da geht der Aufopferungswillen des an sich eher zupackenden und kumpeligen Jochen doch ein bisschen zu weit – indem er etwa seine Familie aufs Spiel setzt, nur um seinem „Vatta“ noch mehr helfen zu können. Trotzdem – selten sieht man Fernsehfilme, die so bis zum Äußersten gehen und jede schönmalerische Happy-End-Lust so im Keim ersticken.

Dass Götz George seinen am Ende kindlichen und verletzlichen, aber vor allem komplett durchgeknallten Ex-Starken-Mann Richard voller Lust und Einfühlungsvermögen spielt, ist eigentlich Ehrensache – so eine Rolle muss eine Herausforderung für jeden Macho sein. Und Klaus J. Behrendt zeigt sein verknittertes Detektivgesicht in der Jochen-Maske als sensibel und angreifbar. Vor allem, wenn die düsteren Farben und die sinistre Atmosphäre den Film zum Schluss richtig bedrückend machen, so sehr, dass man am liebsten darüber reden möchte.