„Wem soll man noch trauen?“

Der Babymilchskandal zeigt die Schwächen der rasanten chinesischen Entwicklung: Eine unabhängige Lebensmittelüberwachung fehlt. Nun ist die Bevölkerung verunsichert und verärgert

AUS PEKING JUTTA LIETSCH

Im Jingkelong-Supermarkt nahe dem Pekinger Arbeiterstadion steht Herr Qiu verloren vor den Regalen. Er braucht Babymilchpulver. Nun will er nichts falsch machen und ist wütend zugleich: „Wie kann ich sicher sein, dass ich die richtige Marke nehme?“ Gerade hat er das Geld für eine Tüte Yili-Milchpulver zurückverlangt. Die Staatsfirma Yili gehört zu den renommierten Molkereien Chinas – und zu den 22 Firmen, die nach offiziellen Angaben Babymilch mit der Chemikalie Melamin versetzt haben.

In diesen Tagen wird das Ausmaß des Skandals klar: Zehntausende chinesische Säuglinge sind in den vergangenen Jahren mit gepanschter Nahrung gefüttert worden. Und die Behörden haben weggeschaut. Mindestens vier Menschenleben hat die böse Mischung von Profitgier, Korruption und Gleichgültigkeit schon gefordert. Vor den Krankenhäusern in Peking drängten sich gestern seit dem frühen Morgen besorgte Eltern. Sie wollen feststellen lassen, ob auch ihr Kind Nierensteine hat.

Inzwischen geben Provinzfunktionäre zu, dass Milch mancherorts bereits seit 2005 mit Wasser und Melamin gestreckt worden war, um höhere Eiweißwerte vorzutäuschen. So ließ sich die rasch steigende Nachfrage leichter befriedigen: Im Reich der Mitte werden jedes Jahr rund 17 Millionen Babys geboren, ein großer Teil wird mit Milchprodukten ernährt.

Dass gleich 22 Firmen in ganz China ihre Kunden betrogen, deutet darauf hin, dass die Melamin-Methode in der Branche kein Geheimnis war. Umso krasser erscheint das Versagen der staatlichen Nahrungsmittelkontrolleure, die, wie ihr Chef Li Changjiang eingestand, „nicht danach gesucht hatten“.

Nach einer Krisensitzung mit Premierminister Wen Jiabao erfuhren die Chinesen, in der Milchwirtschaft herrschten „chaotische Zustände“. Unabhängige Überwachung gibt es so gut wie nicht, die meisten Labors gehören den Industrieverbänden. Gefälligkeitsgutachten sind da keine Seltenheit, sagen Fachleute. Dabei hatte es in den vergangenen Jahren genug Probleme mit verseuchtem Fleisch, Fisch, verseuchten Krabben und anderen Nahrungsmitteln gegeben.

Trotzdem konnte die Firma Sanlu im Fernsehen ganz legal damit werben, dass die staatlichen Kontrolleure ihre Produkte gar nicht erst testeten, weil sie sich auf die „gute Qualität der Firma“ verließen.

Im Internet hagelt es nun Kritik an den Behörden. Es herrscht Entsetzen über die Profitgier chinesischer Firmen, die sogar das Leben von Kindern riskieren. Chinesen, die ihre Babys nicht gefährden wollten, müssten sich am Ende noch für importierte Milch entscheiden. „Seid patriotisch! Kauft ausländische Produkte!“, schrieb ein Kommentator ironisch.

Peking versucht nun, den Schaden einzudämmen. Mehrere Funktionäre der Provinz Hebei und auch die Sanlu-Chefin verloren ihre Posten, in der Stadt Shijiazhuang wurden 18 Händler von vergiftetem Milchpulver und Melamin festgenommen. Gleichzeitig erhielten die Zeitungen wie in solchen Fällen üblich einen Maulkorb: Sie sollen nur noch Berichte der amtlichen Nachrichtenagentur Xinhua abdrucken oder von offiziellen Pressekonferenzen berichten. Die KP erhofft sich so, den Zorn der Eltern unter Kontrolle zu bekommen.