Freudiger Fliegenverkauf

Der Verein Lebensfreude mixt ungewöhnliche Locations mit gutem Sound und Ausflügen in die Vergangenheit. Manchmal stört das die Polizei, manchmal entsteht so eine Geschäftsidee

von HENNING KRAUDZUN

Alles scheint zu stimmen, man lebt, gut. Es fehlt lediglich das Wichtigste. Für Stefan Munk war es die Lebensfreude. Nicht, dass er zuvor mit seinem Leben unzufrieden gewesen wäre. Er vermisste nur die Möglichkeit, um den oftmals monotonen Alltag mit eigenen Ideen umzukrempeln. Die Rolle des passiven Konsumenten im Nachtleben wollte Munk mit der eines Machers vertauschen.

Also gründete er zusammen mit Freunden einen Verein, der seit zwei Jahren ihre Aktivitäten bündelt. In Berlin derzeit nichts Ungewöhnliches, denn niemals gab es mehr Initiativen, die sich in das Vereinsregister eintragen ließen und eine neue kulturelle Gründerzeit einläuteten. Statt nach einem langem Arbeitstag die Beine hochzulegen, organisieren Munk und seine Mitstreiter Partys in alten Abrisshäusern, vermitteln Ausstellungsmöglichkeiten für Künstler und sind politisch aktiv. Da sich das Geflecht aus Interessen kaum in einen Begriff gießen lässt, kamen sie auf den einfachsten Nenner: Lebensfreude.

Zuerst sei es eine Gründung von Partyveranstaltern aus der Subkultur gewesen, sagt Stefan. Dann kamen immer mehr Kreative hinzu, zumeist Studenten, ein Netzwerk entstand im Zeitraffertempo. Mit der Anerkennung der Gemeinnützigkeit besaß man zudem erstmals rechtliche Sicherheit, konnte von den Behörden nicht gleich als illegal abgestempelt werden. Jetzt habe man sogar die Möglichkeit, Fördermittel zu beantragen, obwohl eine erfolgreiche Bewerbung angesichts der knappen Kassen eher fraglich erscheint.

Einige Projekte des Vereins sind mittlerweile erfolgreich, ragen aus dem Geflecht heraus wie strahlende Leuchttürme. Etwa der Elektro-Pop von Toc Toc, die zu den Gründungsmitgliedern zählten und heute als Trio zweier Soundfrickler und der weiblichen Stimme von Sophie O. in die Hitparaden geschleust wurden. Unterdessen eroberten die Schnittcomputer-Virtuosen von Monitor Automatique die Clubs für ihre Videoanimationen, ob im Maria, im WMF oder auf der Transmediale. Viel Arbeit zahlt sich aus, dennoch stecken ihre Wurzeln immer noch im Lebensfreude e. V.

Andere Aktivitäten erfahren erst gar nicht diese Öffentlichkeit. So wandern politisch engagierte Mitglieder zu jenen Gedenkstätten, die an das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte erinnern. Jene Antifaschistischen Ausflüge führten bislang nach Sachsenhausen, zum Treptower Ehrenmal, in die Murellenschlucht.

Indes ging es dabei weniger um Agitation, sondern um die Sensibilisierung für eine Vergangenheit, die nicht immer in den Köpfen der Spaßgesellschaft steckt. Die kleinen Vorträge und Führungen finden inzwischen ein breites Publikum, das sich auch ohne Dozenten im Rücken für Geschichte motivieren kann.

„Bei uns geht es um politische Dinge und Spaßthemen im entspannten Durcheinander“, erklärt Heiko Werner, derzeitiger Vereinsvorsitzender. Tagsüber arbeitet er als freier Unternehmensberater, „reißt eine 50-Stunden-Woche ab“ und widmet sich in der knappen Freizeit ganz dem Verein. Das heißt, auf der Suche nach geeigneten Locations nach Feierabend mit dem Auto durch die Stadt zu fahren, durch verstaubte Keller zu kriechen und in Nachtschichten an Konzepten für Zwischennutzungen zu feilen. Letztendlich lohnt das „Scouting“, wenn der Ort für das nächste Event entdeckt wird.

Verrückte Ideen entstehen dabei, wie eine Bootsregatta in der Rummelsburger Bucht. Dazu hielten DJs am Ufer das feiernde Volk in Bewegung. Ein anderes Mal stellten die Lebensfreudler ihre Boxen mitten in der Stadt auf, für eine Party am Palast der Republik, die erst durch einen massiven Polizeieinsatz aufgelöst wurde.

Eintritt wird von ihnen fast nie kassiert, Getränke zum Selbstkostenpreis verkauft. Der Zulauf durch Berliner Nachtschwärmer ist dadurch enorm, über 2.000 Adressen sind im E-Mail-Verteiler des Vereins gespeichert. Als Grundidee hinter den nächtlichen Aktionen steht: „Wir wollen ein Stück öffentlichen Raum zurückerobern“, sagt Werner.

Das gleiche Prinzip gilt für die Trespasser-Reihe des Vereins. Alte Bunkeranlagen, ehemalige russische Kasernen oder vermoderte Gemäuer werden erkundschaftet und für eine Nacht nutzbar gemacht. Manchmal gerät das Ganze zum Outdoor-Camping mit Lagerfeuer und Würstchen vom Grill, oftmals wird die mobile Soundanlage angeschleppt und ein Dancefloor im Nirgendwo installiert. Es ist wie eine Mischung aus moderner Young-Living-Romantik, die tagtäglich über die Bildschirme flimmert, und dem verbliebenen Pfadfindergeist. „Wir wollen nicht nur die aufpolierte Urbanität kennen, sondern auch die vergessene Geschichte der Stadt“, erklärt Munk.

Dem verwertbaren Ungewöhnlichen sind im Verein ohnehin kaum Grenzen gesetzt. So brüteten zwei Actionwriter das Projekt „Sell a fly“ aus, mit dem kreative Wortspielereien zur nächtlichen Dienstleistung wurden. Die Literaten Petra Anders und Andy Besuch bauen auf Partys ihren Stand auf und schreiben auf Kommando Gedichte. Wer ihnen ein Stichwort nennt, bekommt drei Minuten später einen kompletten Vers überreicht. Wenn es gefällt, zahlt man einen Euro und darf es mitnehmen. Mitunter die ganze Nacht arbeitet das Poetenteam, nur von geistiger Leere ist am Morgen nichts zu spüren. „Dann entstehen erst die schönsten Gedichte“, sagt Anders.

Während „Sell a Fly“ immer noch aus Spaß an der Freude passiert, sind andere Unternehmungen bereits auf dem Weg in die Selbstständigkeit. Ein DJ aus dem Verein plant eine Bookingagentur, die vornehmlich kleinere Clubs mit Plattendrehern und Bands versorgen soll. „Dieses Geschäftsmodell wird dann ausgelagert und könnte ein wirtschaftliches Standbein werden“, sagt Munk. Kurz vor Weihnachten stellten die Lebensfreudler überdies ihren ersten CD-Sampler auf einer großen Releaseparty vor, mit dem das immense soundkreative Umfeld auf eine Scheibe gepresst wurde.

Musikalische Zugpferde, wie Toc Toc, Stefan Küchenmeister und David Hausdorf, sind darauf ebenso vertreten wie noch unbekannte Produzenten. „Derzeit haben die ja fast überhaupt keine Chance, die CD hilft ihnen weiter“, meint Harald Kratz, der sich um die Veröffentlichung kümmerte. Auch der Verein hat dadurch einen ersten Meilenstein gesetzt. Vielleicht entsteht bald aus dem Ideengeflecht ein Label. In Berlin gründeten sich Musikverlage zumeist aus ähnlichen Strukturen und arbeiten heute erfolgreich. Aus der Lebensfreude könnte demnach bald wieder eine Lebensaufgabe erwachsen. Dann jedoch eine, die nichts mehr vermissen lässt.

Infos: www.lebensfreude-berlin.de