„Reichtum wird geschützt, Armut nicht“

Korruptionsexperte Werner Rügemer über die Hintergründe der zunehmenden sozialen Spaltung

taz: Ihr neues Buch liest sich wie eine Standard-Fibel über den Geldfluss. Das Problem, das Sie orten: Die soziale Schere klafft immer weiter auseinander. Wie könnte gegengesteuert werden?

Werner Rügemer: Man muss erst einmal die Ursachen kennen. Grob gesagt wurden die Mechanismen der Gewinnbildung und Bereicherung immer weiter ausgebaut. Auch in Grauzonen der Kriminalität und auf Kosten der lebendigen Arbeit. Deshalb führen diese Mechanismen auch zur Verarmung. Die Staaten selbst sind hierbei zunehmend Akteure. Das Gegensteuern kann deshalb nicht von ihnen erwartet werden. Es muss von der Zivilgesellschaft ausgehen.

Ein Fünftel der Menschheit, das sind über eine Milliarde Menschen, lebt laut der Weltbank in „extremer oder absoluter Armut“. Ihnen reicht diese Zahl nicht aus.

Das Kriterium für diese Zuordnung ist ein Einkommen von bis zu einem Dollar pro Tag. Aber auch mit zwei Dollar pro Tag ist man noch längst nicht aus drückender und ebenfalls entwürdigender Armut heraus. Das Weltbank-Kriterium beschönigt Ausmaß und Struktur der Armut.

Nach offiziellen Zahlen der Bundesrepublik gibt es bei uns mehr Reiche als Sozialhilfeempfänger. Wie kommt es, dass wir diese Relation meist genau andersherum empfinden?

Dass liegt daran, dass man in den offiziellen Statistiken sehr lange suchen muss, um die genaue Zahl der etwa fünf Millionen Reichen zu finden. Der Staat versteckt den Reichtum, er schützt ihn vor der Gemeinschaft.

Auch Armut wird versteckt. Wie würden Sie die tabuisierte, oft verschwiegene Armut in den reichen Ländern definieren?

Die Armut wird bislang daran gemessen, wie niedrig das Einkommen ist. Das Wesentliche ist aber, dass Arme nicht über Vermögen verfügen können. Nur Vermögen überwindet Armut, ermöglicht Sicherheit, Souveränität, Gemeinschaftsbildung.

Können Probleme wie Massenarbeitslosigkeit auch eine Chance für die Gesellschaft sein sich zu verändern?

Dauerhafte Massenarbeitslosigkeit zeigt einen Strukturfehler. Dieser liegt darin, dass lebendige Arbeit ein lästiger Faktor ist, dessen Kosten immer weiter gesenkt werden müssen – möglichst bis knapp vor null. Die notwendige Änderung liegt darin, die Arbeit als Menschenrecht und Manifestation der menschlichen Würde anzuerkennen.

Als Mitglied von Transparency International und Business Crime Control werfen Sie auch einen professionellen Blick auf das so genannte Corporate Crime. Sind die Übergänge des normalen Wirtschaftens ins Kriminelle fließend, ist Korruption eine Spirale ohne Ende, ist Reichtum gar immer das Resultat geschickter Gaunerei?

Nein. Das Wesentliche heute ist, dass Betrug legalisiert und praktisch anerkannt ist. Die wichtigsten Formen der modernen Korruption – bei denen der politische Gestaltungswille der Gemeinschaft durch finanzielle Abhängigkeit gebrochen wird – gelten als legal. Das Strafrecht hinkt anachronistisch hinterher. Die Moral ist verwirtschaftet. Das betrifft beispielsweise auch die Großkirchen und Medien.

Für Sie sind „arm“ und „reich“ auch philosophische Begriffe. Worin zeigt sich die metaphysische Ebene?

Vorsicht! Ich möchte durch dieses philosophische Vorgehen die Realität hinter den scheinbar ewig gültigen und blind geglaubten Bereicherungsmechanismen sichtbar machen. Ich sage: Seht genau hin, wie der Reichtum entsteht, wie er verwandt wird und wirkt. Da zerrinnt die Metaphysik schneller als der Aktienkurs der New-Economy-Stars.

„Die Mehrheit der Lebendigen“, resümieren Sie, sei im Grund „auf Fürsorge angewiesen“. Direkt oder indirekt, durch Arbeitslosen- und Sozialhilfe oder andere Subventionen. Dennoch verdienen die Reichen an den Armen. Gibt es nur Henker und Gehenkte?

Ich stelle sogar fest, dass auch so genannte normale Löhne und Gehälter nur möglichst knappe Überlebensrationen darstellen. Sie sind Zugeständnisse auf Zeit und beruhen nicht auf Wert oder Ertrag der geleisteten Arbeit. Sie stellen deshalb auch nur eine Form der Fürsorge dar, geben aber keine Sicherheit. Diese ist nur durch das zu gewinnen, was ich den „humanisierten Reichtum“ nenne – gemeinschaftlich verantworteter Reichtum. Denn nur dieser bedeutet das Ende der Fürsorge.

INTERVIEW: GISELA SONNENBURG