Der Stolz der Bulgaren

Das osteuropäische Land will in die EU. Und soll dafür vier seiner sechs Atomreaktoren abschalten. Den Bulgaren leuchtet das nicht ein

von BRIGITTE HÜRLIMANN (Text) und PETER DAMMANN (Fotos)

Ab dem ersten polizeilichen Kontrollpunkt wird die Straße plötzlich zum Sperrgebiet. Wer als Autofahrer nicht einen Ausweis gegen die Windschutzscheibe halten kann, wer nicht in einem der vielen betriebseigenen Busse sitzt, kommt hier nicht weiter. Die uniformierten Männer, die an der Straße Wache schieben, gehören zu einer Eliteeinheit. Wir befinden uns im Norden Bulgariens, an der Donau, wenige Meter von der Grenze zu Rumänien entfernt. In der Gegend von Kosloduj, der Stadt des atomaren Ruhms. Hinter dem ersten Checkpoint stehen sechs Atomreaktoren, die beiden ältesten sind über dreißig Jahre alt: sowjetische Bauart der ersten Generation.

In Kosloduj, in ganz Bulgarien ist man furchtbar stolz auf dieses gigantische Atomkraftwerk, von dem sich der Westen und sogar die Internationale Atomenergieorganisation längst distanziert haben. Für die Bulgaren aber sind diese sechs Meiler zu einer Frage der nationalen Identität, des nationalen Stolzes geworden. Wer das Atomkraftwerk in Frage stellt oder gar ablehnt, ist gegen Bulgarien.

Es ist 7.15 Uhr. Wir müssen am Polizeiposten warten, unsere Einladungen und Empfehlungsschreiben werden geprüft, telefonische Erkundigungen getätigt. Das Atomkraftwerk liegt greifbar nahe, hinter Baumkronen versteckt. Die elektronische Uhr am Checkpoint ist kaputt. Dafür ist die Temperatur an der Anzeigetafel ablesbar und die radioaktive Strahlung, 0,12 Mikrosievert. Auch am Stadthaus von Kosloduj ist ein Messgerät installiert. Nie ist während unseres zweiwöchigen Besuches in der Stadt die radioaktive Belastung auf mehr als 0,14 Mikrosievert gestiegen, nie musste das rote Alarmlämpchen aufleuchten.

Die Sirenen heulten nur einmal, ein Probealarm. Niemand konnte uns sagen, was denn im Falle eines – der Bevölkerung gemeldeten – radioaktiven Zwischenfalles getan werden müsse. Die einen sprachen von Gasmasken, die an die Menschen rund ums Atomkraftwerk verteilt worden seien, andere von Zivilschutzanlagen, wiederum andere von einem Evakuierungsplan und dass solcherlei Szenarien auch an den Schulen geübt würden. Alle aber wussten sie mit Bestimmtheit, dass nie, nie etwas passieren werde, nicht hier im AKW von Kosloduj. „Trinken Sie ruhig einen Schluck dieses Kaffees und haben Sie keine Angst“, pflegt Bürgermeister Milko Torbov westliche Journalisten gerne zu empfangen, „er ist nicht radioaktiv verseucht.“

Die westliche Presse aber schreibt von Himmelfahrts- oder Höllenmaschinen, Schrottreaktoren, von einer nuklearen Zeitbombe im Zentrum Europas, von Hochrisiko- oder Uraltmeilern, die trotz jeglicher Modernisierung nicht auf ein vertretbares Sicherheitsniveau nachgerüstet werden könnten, von Störfällen in Serie.

Kosloduj gehört zu den gefährlichsten Atomkraftwerken der Welt. Vier der sechs Blöcke verfügen weder über einen getrennten Notkühlkreislauf noch über einen Sicherheitsbehälter, Containment genannt, der radioaktiv verseuchtes Kühlwasser zurückhalten könnte; das Steuerungs- und Kontrollsystem ist mangelhaft –, um nur einige der gravierendsten Probleme zu nennen. Die Lagerung der abgebrannten Brennelemente vor Ort und der Transport zurück ins Herkunftsland, nach Russland, auf Donauschiffen und per Eisenbahn, gelten zumindest als problematisch. Vorigen Winter etwa entgleiste ein Zug der transsibirischen Eisenbahn, der 41 Tonnen Brennstäbe aus Bulgarien geladen hatte.

Die beiden ältesten Blöcke wurden zu Jahresbeginn abgeschaltet, so wollte es die EU, über das Abschalten der Reaktoren drei und vier wird mit der bulgarischen Regierung noch verhandelt, als möglicher Termin das Jahr 2006 genannt. Aber auch die beiden neueren Reaktoren von Kosloduj, Typ Temelín, sind bedenklich. Und ganz Bulgarien wehrt sich gegen eine Abschaltung, gegen diese ungebührliche, unbegründete Einmischung des reichen Westens, der bloß neidisch auf das florierende bulgarische AKW schaue und ans eigene Portemonnaie denke. Die Bulgaren, und zwar nicht nur die Bewohner von Kosloduj, die um ihren materiellen Wohlstand bangen, wollen ihr Atomkraftwerk nicht aufgeben, auf keinen einzigen ihrer Reaktoren verzichten. Sie sind allerdings auch äußerst schlecht informiert: Über Tschernobyl, erzählt uns ein Sofioter Geschäftsmann, habe die bulgarische Presse wenige Male in Kurzmeldungen berichtet und davon, dass ihr Atomkraftwerk gefährlich sei, lese man überhaupt nichts. So kommt es vor allem in Sofia zu Protestmärschen und Kundgebungen gegen die geplante Abschaltung einzelner Reaktoren, eine halbe Million Unterschriften wurden der Regierung überreicht, Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle machen an vorderster Front mit – pro AKW.

Checkpoint, 7.45 Uhr. Unsere Papiere sind in Ordnung, wir werden im Atomkraftwerk erwartet, dürfen die letzten zweihundert Meter sogar ohne Polizeieskorte passieren, unter der Baumallee, vorbei an Feldern und Wiesen, üppig, grün und fruchtbar, bis wir vor dem Haupteingang stehen. Das AKW liegt inmitten blühender Donaulandschaft. In Scharen strömen jetzt die Menschen zu den Toren hinein, viele junge, auffallend gut gekleidete Leute, sie kommen in den begehrten Westautos angefahren, die ganze Banden von Autodieben nach Kosloduj locken, oder in einem der kostenlosen Betriebsbusse, sie reihen sich noch schnell vor einem Imbisskiosk ein, kaufen sich zum Frühstück eine Banitschka und eine Bosa, ein Blätterteiggebäck mit Käsefüllung und ein dickliches Getränk aus vergorener Hirse. Die Banitschka in der einen, die Bosa in der anderen Hand passieren sie die letzten Kontrollen und verlieren sich sogleich in den unzähligen Hallen und Verwaltungsgebäuden.

Ganz zuletzt, es ist schon beinahe neun Uhr, fährt der Frauenbus vor: Er transportiert Mütter, die vor der Arbeit ihren Nachwuchs in die Kinderkrippen und Kindergärten brachten, von denen es in Kosloduj fünf gibt und die vom AKW finanziell unterstützt werden, so wie eigentlich fast alles in der Stadt nur dank AKW-Geld existiert. Der schönste, größte und modernste Kindergarten, er heißt Radost – „Freude“ – hat kürzlich einen nationalen Malwettbewerb gewonnen. Die Kinder zeichneten eine AKW-Anlage, die sich harmonisch in eine liebliche Landschaft einfügt, das alles in hellen, fröhlichen Farben, mit Regenbogen und Schmetterlingen verziert, dazu ein Sprüchlein, das von den Kindergärtnerinnen in Teamarbeit kreiert worden war: „Die kleinen Talente vom Kindergarten Radost unterstützen die große Idee. Wir wollen das AKW Kosloduj retten.“

AKW-Angestellte verdienen ein Mehrfaches des durchschnittlichen Gehaltes im Lande. Glücklich ist, wer überhaupt eine Arbeit hat. Überglücklich und privilegiert, wer im Atomkraftwerk arbeiten darf. Alle wollen sie im AKW arbeiten: der ehemalige Priester, die städtische Beauftragte für Minderheiten, der Polizeichef, die Serviererin in Koslodujs größter Disco „Imperial“, sie lebt im Romaghetto, in Jantra, wo die Arbeitslosigkeit 99 Prozent beträgt. Das AKW hat eine Zweiklassengesellschaft geschaffen, die Einkommensschere geöffnet. Es gibt die einen, die sehr gut verdienen, weil sie eine Stelle im AKW haben, und die anderen, die wenig oder gar nichts verdienen. 5.400 Menschen arbeiten zurzeit im AKW. Die Preise in Kosloduj entsprechen jenen der bulgarischen Ferienorte am Schwarzen Meer zur Touristenhochsaison. Nur, dass in Kosloduj ständig Hochsaison herrscht – was die Preise betrifft.

Sonst allerdings hat die Stadt herzlich wenig von einem Touristenort: Kosluduj ist eine Stadt mit 17.000 Einwohnern in zahllosen Wohnblocks, die blitzschnell aus dem Boden gestampft werden mussten, denen das alte, idyllische Donaudörfchen zu weichen hatte, und diese Schnellschussplattenbauten prägen heute das Stadtbild. Sie befinden sich in einem lamentablen Zustand. Dafür gibt es jetzt ein Schwimmbad in Kosloduj, ein Fitnesscenter, ein Internetcafé, ein protziges Kulturhaus – es heißt „Haus des Energetikers“ und gehört dem AKW –, viele Boutiquen, ein vietnamesisches und ein italienisches Restaurant, unzählige Straßencafés, sodass manchmal tatsächlich südliche Ferienstimmung aufkommt, aber erst nachts, wenn die maroden Plattenblocks in der Dunkelheit verschwinden.

Alexander Alexandrow begleitet uns in den Kommandoraum von Reaktorblock vier; ein Sicherheitsmann, zwei Informationsbeauftragte und eine Direktionsangestellte, die perfekt Deutsch spricht und immer ein bisschen mithört, weichen nie von unserer Seite. Die Kommandozentrale ist ein hoher, halbrunder, fensterloser Raum mit unzähligen Anzeigetafeln, Bildschirmen, Monitoren, Schalthebeln, Knöpfen und Lämpchen. Weil die elektronische Schleuse gerade ausgefallen ist, bewacht ein Polizist den Zugang zu diesem delikaten Raum. Junge Männer sitzen ernst an ihren Pulten und starren auf die Bildschirme, es sind die Operateure, Diplomingenieure aus ganz Bulgarien, die besten Wissenschaftler, so sagt man uns, arbeiteten im AKW, und auch ausländische Spezialisten, aus den USA, aus Frankreich, Italien, Belgien oder Polen und natürlich aus Russland.

Alexander Alexandrow ist 42, Familienvater und Oberingenieur, verantwortlich für die beiden ältesten Reaktoren. Seine jüngste Tochter heißt Radost, also Freude, wie der moderne Kindergarten von Kosloduj. Technisch gesehen, sagt Alexandrow, könnten die Reaktorblöcke eins und zwei problemlos noch zehn Jahre lang in Betrieb bleiben. Nur aus politischen Gründen müssten sie abgeschalten werden. Es sei eines der Hauptanliegen des Verbandes der Operateure, diese Abschaltung zu verhindern. Vorigen Februar sei man deshalb von Kosloduj aus mit 68 Autos nach Sofia gepilgert, mit dem besten Polizeiauto der Gemeinde an der Spitze, unter dem Slogan „Marsch für Bulgarien“. Man habe erreichen wollen, dass sich das bulgarische Volk zu der bevorstehenden Abschaltung mittels Referendum äußern dürfe. Leider sei dies nicht gelungen. Dabei sei das ganze Land gegen die Abschaltung. Doch die Politiker kümmere das nicht.

Im Kommandoraum steht ein großes Aquarium mit Zierfischen, die munter ihre Kreise drehen. Es dient nicht nur der Zierde des Raumes. Diese Fische, erklärt man uns, reagierten besonders empfindlich auf radioaktive Strahlung. Sollte Strahlung austreten, würde man dies anhand der Fische sofort erkennen. „Es darf aber nichts passieren“, sagt Alexander Alexandrow, und: „Unser AKW ist das meist kontrollierte der ganzen Welt.“

Der Oberingenieur führt uns in einen Maschinensaal, die Begleitgruppe trabt mit. Es ist warm hier drinnen, sehr warm sogar, die riesigen Turbinen und Generatoren dröhnen, ein höllischer Lärm, der Boden vibriert, weit und breit ist kein Arbeiter zu sehen, denn fast alles wird im Kommandoraum per Knopfdruck oder Mausklick manipuliert und kontrolliert, auch die Aufrechterhaltung der Kettenreaktion. Der Reaktor ist direkt hinter der blauen Wand, an der wir lehnen. Nein, sagt der Oberingenieur, den Reaktorraum dürften wir leider nicht besichtigen.

Einmal pro Woche trifft sich Alexander Alexandrow mit seinen Kollegen im Kulturhaus, um über künftige Aktionen zu reden. Die Autofahrt nach Sofia hat ihnen viel Publizität und Sympathie, aber keine Resultate gebracht. Die geplante Abschaltung der vier ältesten Reaktoren von Kosloduj, sagen die Diplomingenieure, sei nur politisch und wirtschaftlich zu begründen. Der Westen wolle seinen teuren Atomstrom nach Bulgarien exportieren, das Land werde wirtschaftlich zu Grunde gerichtet, man erwarte wohl in Brüssel, dass die Bulgaren auf den Knien beitreten würden. Gleichzeitig biete die EU den betroffenen Menschen keine Alternative an, nehme ihnen im Gegenteil jegliche Perspektive. Man fühle sich im Stich gelassen und verraten; von der EU, der eigenen Regierung, von der AKW-Leitung.

Das Wort Tschernobyl nimmt in Kosloduj keiner in den Mund. Pripjat hieß einst das ukrainische Pendant zu Kosloduj, eine wohlhabende, mit allen sportlichen, kulturellen und sozialen Annehmlichkeiten ausgestattete, gepflegte Satellitenstadt für fünfzigtausend Menschen, AKW-Angestellte, die ebenfalls wesentlich mehr verdienten als der Rest im Lande. Glücklich war, wer in Pripjat leben, im drei Kilometer entfernten Atomkraftwerk Tschernobyl arbeiten durfte. Seit dem 26. April 1986 steht Pripjat in der Todeszone. Erst einen Tag nach dem Super-GAU waren die fünfzigtausend Stadtbewohner und alle anderen Menschen im Umkreis von dreißig Kilometern evakuiert worden. Für die meisten kam dies zu spät. Wie viele hunderttausend Menschen an den Folgen der AKW-Katastrophe gestorben, erkrankt oder behindert zur Welt gekommen sind, das weiß niemand genau. Nach Pripjat werden inzwischen Touristenreisen angeboten. Zu besichtigen ist eine verlassene, zerfallene, eine tote Stadt – vor dem 26. April 1986 der Stolz der Ukraine.

Rund zweihundert Kilometer von Kosloduj entfernt, am Weg der Donau und entlang nach Rustschuk, dem Geburtsort von Elias Canetti, steht das Städtchen Belene, das heute zehntausend Seelen beherbergt. In Belene steht eine ein Milliarde Dollar teure Bauruine – die große Hoffnung Bulgariens. Der Ministerpräsident persönlich, der ehemalige bulgarische Zar Simeon II. von Sachsen-Coburg-Gotha, hat seinem Volk versprochen, die Arbeiten an der Bauruine wieder aufzunehmen, die seit über zehn Jahren verwaist dasteht und verrottet. Geplant ist ein neues Atomkraftwerk mit vier Reaktoren. Das Baugelände ist eingezäunt und wird polizeilich bewacht, rund um die Uhr, denn hier lagert wertvolles AKW-Material, zum Beispiel ein Reaktor, der auf seinen Einsatz wartet, eingesperrt in einer rostigen Bude, die Türe mit einem Vorhängeschloss gesichert. Der Bürgermeister von Belene versichert, die Stadtbevölkerung freue sich auf das neue AKW. Doch nicht nur Belene hofft, sondern das ganze Land. Nein, auf den Knien werden die Bulgaren nicht zur EU kommen.

Und überhaupt, so fragen uns die Diplomingenieure und Politiker von Kosloduj immer wieder: Ob wir eigentlich wüssten, dass in der Schweiz ältere Reaktoren als jene von Kosloduj in Betrieb stünden? Dass im EU-Mitgliedsstaat Großbritannien eine ganze Reihe sehr betagter Magnoxreaktoren als höchst bedenklich gelten? Warum wir nicht vor der eigenen Haustüre für Ordnung sorgten, anstatt mit dem Finger nach Bulgarien zu zeigen?

BRIGITTE HÜRLIMANN, 39, ist freie Journalistin in Zürich. Für die Realisierung der Reportage über das Super-AKW in Bulgarien hat sie 2001 das Gabriel-Grüner-Stipendium gewonnen. Die Langfassung des Textes ist in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen PETER DAMMANN, Jahrgang 1950, lebt in Bern und Hamburg. Bevor er zur Fotografie kam, arbeitete er zehn Jahre als Sozialarbeiter. Seit zwei Jahren arbeitet er für die Fotoagentur Lookat