Was vom Armenpriester blieb

Zwei Jahre nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen steigen im verarmten Haiti die Spannungen zwischen Anhängern und Gegnern des Präsidenten Jean-Bertrand Aristide. Immer öfter kommt es zu gewalttätigen Zusammenstößen auf der Straße

aus Port-au-PrinceH.-U. DILLMANN

Vor dem Parlament in Port-au-Prince ziehen unter musikalischer Begleitung von zusammengeschweißten Aluminiumtröten, Bambusrohren und Trommeln rund 2.000 Lavalas-Anhänger singend und tanzend über den Platz der Nationen. Sie feiern einen Sieg. Soeben haben die Anhänger des haitianischen Präsidenten mit Reitgerten und Peitschen eine Handvoll Oppositioneller am Demonstrieren gehindert. Rhythmisch liegt ihr Sprechgesang in der Luft: „Es lebe Titid!“. Titid ist der Spitzname von Präsident Jean-Bertrand Aristide.

„Wenn sie Bürgerkrieg wollen, sterben wir für Aristide“, warnt ein junger Mann, der mit seinem Strohhut und der Spiegelsonnenbrille wie die Karikatur eines Geheimagenten aussieht. Fast täglich kommt es in dem Acht-Millionen-Einwohner-Land zu Demonstrationen und Zusammenstößen zwischen Oppositionsmitgliedern, die den Rücktritt des Staatschefs fordern, und Aristide-Anhängern, die mit Stöcken und Steinen die Gegner zum Schweigen bringen wollen.

Vor zwölf Jahren war das nicht nötig. Da war Jean-Bertrand Aristide, damals noch Mitglied des Salesianerordens, der uneingeschränkte Hoffnungsträger des Landes. „Lavalas“ hatte er seine Partei genannt, in Kreol bedeutet dies „Flut“, „Erdrutsch“ oder „Lawine“. Haiti, das „Land der Berge“, wie es die Ureinwohner nannten, drohte in einem Strudel der Gewalt zu versinken. Seit „Baby-Doc“ Jean Claude Duvalier, der Sohn des berüchtigten Diktators François Duvalier, auf Druck der USA 1986 unter Mitnahme der Staatskasse geflohen war, gaben sich die zurückgebliebenen Militärobristen im Staatspalast die Türklinke in die Hand – um sich noch an der Konkursmasse des Duvalier-Regimes zu bereichern. Mit seiner Losung „Frieden im Geist und im Magen“ überzeugte Aristide vor allem die Besitzlosen in den Armenvierteln der Städte und auf dem Land, die ihren Hunger stillen und – ein weiteres Versprechen – „in Würde“ leben wollten. Der Anhänger der Befreiungstheologie verbuchte mit 65,7 Prozent der abgegebenen Stimmen im Dezember 1990 einen Erdrutschsieg. Neun Monate später war Aristide allerdings wieder aus dem Amt geputscht – mehr als 1.500 Lavalas-Anhänger wurden massakriert. Erst drei Jahre später gelang ihm 1994 mit Hilfe von US-Truppen die Rückkehr ins Präsidentenamt. Aber das Land versank trotzdem immer weiter im Chaos. Die heutige Opposition macht dafür Aristide und Lavalas verantwortlich.

„Aristide hat unsere sozialen Ziele verraten. Ich habe mich in ihm getäuscht“, sagt Gérard Pierre-Charles, der während der Duvalier-Diktatur mehr als zweieinhalb Jahrzehnte im Ausland gelebt hat. Der ehemalige Weggefährte Aristides ist heute Koordinator der „Demokratischen Konvergenz“, dem größten Oppositionsbündnis. 15 mehr oder weniger linke Gruppierungen und gemäßigte ehemalige Anhänger Duvaliers bilden die „Convergence Demócratique“.

Die Liste der Anschuldigungen ist lang: Teile von Lavalas duldeten, dass das Land in der Region zu einem Dreh- und Angelpunkt für den Drogenschmuggel geworden sei, Internationale Hilfsgelder seien in private Taschen geflossen, und die Korruption innerhalb der Verwaltung werde jeden Tag offensichtlicher. Während die Mehrheit der Bevölkerung noch immer in Armut lebe, sei Aristide längst der reichste Mann Haitis, behauptet der Oppositionspolitiker Sauveur Pierre Etienne.

Seit offensichtlichen Wahlmanipulationen bei den im Jahre 2000 abgehaltenen Parlaments- und Senatswahlen und Überfällen auf ihre Parteibüros verweigert die Opposition jegliche Zusammenarbeit mit Lavalas und Aristide. Bei den Präsidentschaftswahlen im November 2000 nominierte die Demokratische Konvergenz keinen Kandidaten und rief zum Wahlboykott auf. Aristide gewann mit 91,7 Prozent, die vom Ausland geforderte Wahlwiederholung lehnte er ab. „Die Opposition ist nur eine kleine Minderheit“, erklärt er seitdem immer wieder.

Aufgrund internationalen Drucks bot er dann doch im September vergangenen Jahres der Opposition Gespräche an, aber „Convergence Démocratique“ lehnte ab. „Aristide hat noch nie sein Wort gehalten“, begründet Gérard Pierre-Charles die Verweigerungshaltung.

Seit zwei Jahren sind die internationalen Hilfsgelder für Haiti in Höhe von rund einer halben Milliarde Euro eingefroren, schon zugesagte Kredite zum Aufbau des Landes und zur Beseitigung der Armut gesperrt und europäische Entwicklungsprojekte fast auf null runtergefahren. Die wirtschaftliche Situation hat sich seitdem dramatisch verschärft. Die Preise für Grundnahrungsmittel haben sich inzwischen fast verdreifacht. Das monatliche Durchschnittseinkommen liegt bei umgerechnet 20 Euro. Um wenigstens einmal am Tag einen Teller mit Reis und Bohnen auf dem Tisch zu haben, muss eine haitianische Familie fast 15 Euro im Monat ausgeben. „Fleisch ist Luxus“, sagt eine Hausangestellte, die täglich zwölf Stunden putzt, wäscht und kocht, um die Familie zu ernähren.

Rund 70 Prozent der Bevölkerung haben keine feste Arbeit – die Mehrheit versucht sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten. Ohne die rund 600 Millionen US-Dollar, die jährlich von den etwa 1,5 Millionen haitianischen Migranten aus dem Ausland überwiesen werden, würden im Armenhaus Lateinamerika noch mehr Menschen hungern. 62 Prozent der Bevölkerung leiden bereits an Mangelernährung.