Abgeschoben in den Kältetod

In Stralsund wurde ein volltrunkener Obdachloser auffällig – und von zwei Polizisten bei etwa null Grad am Stadtrand ausgesetzt. Diesen Platzverweis hat er nicht überlebt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt jetzt gegen die beiden Beamten

von DIETER GLÄSENER

Den „Platzverweis“ kennt man. Aber er lässt sich steigern, heißt dann „Verbringungsgewahrsam“. Dieser Platzverweis der besonderen Art hat wahrscheinlich Anfang Dezember einem Obdachlosen das Leben gekostet. In Stralsund ermittelt die Staatsanwaltschaft derzeit gegen zwei Polizisten.

Der 35-jährige Mann war in einem Einkaufsmarkt in der Stralsunder Innenstadt „auffällig geworden“, er hatte die „öffentliche Ordnung“ gestört. In normalem Deutsch: Er hatte deutlich zu viel getrunken und ein bisschen randaliert, „aber ein Straftatbestand lag nicht vor“, so der zuständige Oberstaatsanwalt Dirk Schneider-Brinkert. Doch die beiden Polizisten fuhren den Mann an den Stadtrand. Dort wurde er später gefunden – tot. Wahrscheinlich war er an einer Alkoholvergiftung und an Unterkühlung gestorben.

Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft unter anderem wegen des Tatbestandes der „Aussetzung“ – was juristisch meint, dass jemand in eine „hilflose Lage“ gebracht wird. Falls das Opfer stirbt, sieht das Gesetz eine Strafe von mindestens drei Jahren vor. Doch möglicherweise war alles noch viel schlimmer – und keine Aussetzung, sondern auch noch „unterlassene Hilfeleistung“, „Freiheitsberaubung“ oder „fahrlässige Tötung“.

Nun kommt es allerdings keineswegs nur in Stralsund vor, dass lästige Obdachlose an den Stadtrand verfrachtet werden. Nicht nur Mecklenburg-Vorpommern sieht den Verbringungsgewahrsam ausdrücklich vor – er ist beispielsweise auch im sächsischen Polizeigesetz verankert. Thomas Wüppesahl, Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft kritischer Polizistinnen und Polzisten, meint: „Man hat in den 90er-Jahren nur legalisiert, was früher schon Praxis war.“

Doch auf diese gesetzlichen Regelungen könnten sich die beiden Beamten in Stralsund nicht berufen, findet Uwe Werner von der dortigen Polizeidirektion. Denn das „normale Verfahren“ sei nicht eingehalten worden. Zunächst sei nämlich zu prüfen, ob die Person auch eine Gefahr für sich selbst darstellen könne. So dürfe man einen Volltrunkenen nicht allein in seiner Wohnung zurücklassen – wenn sich keine Verwandten oder Bekannten um ihn kümmern können, muss er in eine Ausnüchterungszelle eingeliefert werden. Die beiden Stralsunder Polizisten hätten den volltrunkenen Obdachlosen also nicht zirka neun Kilometer außerhalb des Stadtzentrums absetzen dürfen. Zudem waren die nächsten Häuser zirka anderthalb Kilometer entfernt und es herrschte leichter Frost.

Immerhin trug der Obdachlose Winterkleidung. Aber auch da gilt: „Man muss die Verhältnismäßigkeit beachten“, betont der Sprecher der sächsischen Innenministeriums, Thomas Uslaub. „Und die ist bei starkem Frost sicher nicht mehr gegeben.“ Die Berliner Polizei verzichtet inzwischen ganz auf den Verbringungsgewahrsam; man bringt alkoholisierte Randalierer lieber in eine „Gefangenen-Sammelstelle“ mitten in der Stadt. Dort bleiben sie dann, bis sie wieder ausgenüchtert sind.