Gemäßigt begeistert vom Kanzler

In Emden kämpft sich Schröder leidenschaftslos, fast müde durch die Pflichtthemen In Kassel ist Schröder nicht „der Gerd“. Das scheint ihn gerade anzuspornen. Er ist flott und munter

aus Emden und Kassel HEIDE PLATEN

„Das Leben ist nicht fair“, singt Herbert Grönemeyer aus dem Bühenlautsprecher. Wohl wahr, ist es nicht, nicht zu Bundeskanzler Gerhard Schröder und auch nicht zum SPD-Spitzenkandidaten Sigmar Gabriel. Die Umfrageergebnisse sagen der SPD „Land unter“ für die Landtagswahlen am 2. Februar in Niedersachsen und in Hessen voraus. Der Kanzler ist zum Wahlkampfauftakt zuerst einmal ans Meer nach Ostfriesland gereist, dahin, wo das Land so flach ist und die Bauernhöfe so backsteinbreit und bräsig in der Landschaft glucken. Hier sagt man zu jeder Tageszeit „Moin, Moin“, die Arbeitslosigkeit ist hoch. Seine „zweite Heimat“ nennt der Kanzler das. Rund um die Emdener Nordseehalle ist Sicherheitszone. 1.500 Menschen werden langsam durch die Kontrollen geschleust, nehmen es gelassen und freuen sich trotzdem: „Nu isser da!“

Ein rotweißer Rettungsring hängt vor der Bühne. Er gehört dem Loppersumer Shanty-Chor. Der ist in den letzten Jahren bei allen Wahlkämpfen dabei gewesen, versteht sich als „Talisman“ und steht wie alle Mann an Deck hinter dem Kanzler. Klar werden sie ihn wählen, sagt Johann Maarfeld (64). Die ehemaligen Werftarbeiter im Rentenalter sind sozialdemokratisch bis in die Knochen und intonieren erst „So viel Wind, und keine Segel“ und dann „Drei Strich nach Steuerbord“. Für Landratten: Steuerbord, das ist rechts. Und das kann er nun eigentlich gar nicht gebrauchen, „der Gerd“. „Wenigstens“, sagt Moderator Herbert Visser, „wenigstens Hochwasser ist nicht zu fürchten.“

Die Menschen in der Region haben ihre eigenen Sorgen, das Ems-Sperrwerk, den Polder in der Wümme, das Schöpfwerk, Küstenschutz, Tourismusflaute, die Fahrradwege. Auf dem Programm steht Talk. Zu Rednern sind die Menschen in der Region nicht geboren. Auch nicht die Landtagskandidaten der Wahlkreise. Neuling Johanne Modder will „erst mal gucken, wie das in Hannover so läuft“: „Und mit den Kollegen, das werd ich schon geregelt kriegen.“ „Hervorragend!“, sagt der Moderator. Der seebärige Kandidat Bontjer weiß nichts über die Schulpolitik, da ist er eben kein Experte. Aber „in die Strümpfe kommen“, das muss man wohl. Der Moderator: „Ein Vollblutpolitiker!“ Dann fehlt noch Kandidat Hans-Werner Pickel. Der schwärmt von Kroatien. Seit 30 Jahren macht er da Urlaub: „1.000 Kilometer Küste, 1.200 Inseln!“ Moderator Visser verzweifelt nicht: „Der Trend geht zum Zweiturlaub.“ Ostfriesland habe ja zwar nur sieben Inseln, aber die seien doch auch ganz schön.

Der Kanzler hat sich verspätet, hat nur Zeit für ein mannhaftes Schulterklopfen, keine für das sehnlich erhoffte gemeinsame Lied mit dem Loppersumer Shanty-Chor. „Es ist wahr“, sagt er stattdessen, „ich fühl mich hier zu Hause, immer noch.“ Schröder erinnert an alte Zeiten, als er noch vor den Toren der Regierungsbebäude in Hannover und Bonn stand, an Hinterzimmertreffen und gemeinsamen Kampf. Bei Gegenwind, auch aus der eigenen Partei, be4frage er Ehefrau Doris, und die sage ihm „ümmer“, er solle sich nicht „so aufpumpen“. Er habe es seinen Vorgängern schließlich dereinst auch nicht leicht gemacht. Dem Spitzenkandidaten Gabriel trage er die Kontroverse um die Steuerreform nicht nach. Der sei ein Mann, der „nach Niedersachsen passt, kritisch, ohne zänkisch zu werden, selbstbewusst, aber nicht überheblich“: „Was auch immer geschrieben wird, die kriegen uns nicht auseinander!“

Im Saal sitzen vorwiegend ältere Männer, graue und weißhaarige Köpfe, Schaffer und Schauer, Hafen- und Stahlarbeiter, viele Bärte und noch mehr Pudel-, Schieber-, Prinz-Heinrich-Mützen. Schröder erläutert die Weltpolitik, keine Kriegsbeteiligung im Irak, Friedensdiplomatie im Nahen Osten, Freundschaft mit den USA, Hilfe für die Krisenregionen der Welt, EU-Osterweiterung. Der Kanzler leistet dabei zwar viel Beinarbeit – hüpft und wippt, knickt im Oberkörper ein, dreht sich steuer- und backbord, Trippelschritt im Viertelkreis um das Rednerpult – und legt viel Energie in die Körpersprache, wenig aber in die Rhetorik. Er kämpft sich relativ leidenschaftslos, fast müde durch die Pflichtthemen, die er schon im Bundestagswahlkampf so oder so ähnlich abgehandelt hat. Die Männer nicken bedächtigt. Der Shanty-Chor holt sich sein Bier. „Der Gerd“ seufzt von oben herab: „Das ist die große Politik, als wenn die kleine nicht genauso wichtig wäre!“ Und: „Man wird ja nicht jünger in diesen Zeiten und durch diese Zeiten!“

Und da fällt so ein Spagat schwer: den Sozialstaat „nicht über Bord schmeißen“, aber trotzdem die Wirtschaft modernisieren „unter radikal veränderten weltwirtschaftlichen und ökonomischen Bedingungen“. Applaus gibt es erst, als er noch einmal zusichert, dass Niedersachsen seine Landesanteile an der Volkswagen AG trotz Order der Europäischen Union nicht verkaufen wird, „nicht in Emden, nicht in Salzgitter, nicht in Hannover“ und dass er fest zu den Gewerkschaften stehe. Auch die Managerschelte kommt gut an. Und die Medienschelte in Sachen Klatsch über den Zustand der Kanzlerehe erst recht. Er lasse sich, sagt Schröder, „die Methoden der Diffamierung und persönlichen Kränkung“ nicht gefallen. Da werde „der Gegner zum Feind“ gemacht und die „demokratische Kultur“ nehme Schaden. Er gipfelt, Empörung in der Stimme: „Wehret den Anfängen!“ Und zum Schluss: Für die Wahl in „dreieinhalb Wochen“ müsse man sich „eben noch ein bisschen anstrengen“, „Oma und Opa mitnehmen, aber nur wenn sie SPD wählen“. Allenthalben Zustimmung. Ein winziger Bauernprotest richtet sich eher gegen den grünen Koalitionspartner. Zum gemäßigten Abschiedsapplaus posiert der Kanzler noch einmal kurz mit roten Boxhandschuhen, signiert zwei Parteibücher und entschwindet. „Nu isser wech“, sagen die Loppersumer Sänger im Chor.

Am nächsten Tag ist er wieder da, südlicher diesmal, im nördlichen Teil Hessens, zur Großkundgebung in der Stadthalle von Kassel. Auch diese Region leidet an Infrastrukturschwäche und hoher Arbeitslosigkeit. Alles aber ist schneller und professioneller organisiert als bei den Ostfriesen. Im Foyer ist Hochsicherheitszone. Äpfel, Birnen, Apfelsinen, Wasserflaschen werden vom Sicherheitsdienst als potenzielle Wurfgeschosse konfisziert. Und die blauen Flugblätter, die das Kasseler Friedensforum vor der Halle verteilt hatte, gleich mit. Sie wandern in den Papierkorb.

Nordhessen ist Terrain der traditionellen Sozialdemokratie und von den Konservativen hart umkämpft. Der Andrang ist trotz Kanzler nicht gerade riesig. Nur 500 Menschen sind gekommen, die Halle wirkt halb voll, halb leer. Der Kandidaten-Talk wird kurz gehalten. Gerhard Schröder ist überpünktlich angekommen und marschiert zusammen mit dem Spitzenkandidaten Gerhard Bökel ein. Dessen Rede hört er stehend zu, eingerahmt vom hessischen Schattenkabinett. Beifall klatscht er nur selten, das milde Lächeln sitzt ihm wie festgefroren im Gesicht. Auch mit Bökel war er sich in den letzten Wochen uneins wegen der Vermögensteuer und des Irak-Einsatzes. Bökel ist an diesem Tag zuerst einmal eloquent dabei, den amtierenden Ministerpräsidenten Roland Koch anzugreifen. „Solch einen“, der „Fremdenfeindlichkeit schürt und die Opfer des Naziterrors beleidigt, solch einen wollen wir nicht.“ Familienpolitik und Bildung, Chancengleichheit, Mittelstandsförderung, Umweltpolitik seien die Schwerpunkte des SPD-Wahlkampfes in Hessen. Und Arbeitsplätze. Die schafft der Kanzler. Bökel dankt Schröder für seinen Einsatz für den Transrapid in China. Der verzieht keine Miene.

Der Kandidat nimmt das Kanzlerthema Irak vorweg und stellt sich gegen die Kanzlerdiplomatie: „Wir sind keine Befehlsempfänger von George Bush!“ Der Beifall der Basis ist heftig, der Schröders so knapp und förmlich wie sein Lob für die Vorgabe des Vorredners: „Ich denke, das war eindrucksvoll.“ Gerhard Schröder ist hier nicht „der Gerd“. Das scheint ihn gerade anzuspornen. Dynamischer, flotter, munterer ist er als in Emden, die Wahl ist nach 24 Stunden nicht mehr dreieinhalb, sondern nur noch „knapp drei Wochen“ entfernt. Die Rede ist kürzer, komprimierter und gleicht der in Emden nur partiell, weniger Versatzstücke aus dem Bundestagswahlkampf, weniger Körpersprache. Auch weniger Lokalkolorit und weniger bekräftigendes „Verdammt!“. Die Passagen zur Gesundheitsreform und zur Osterweiterung ähneln denen vom Vortag. Die Schröder-spezifischen Versatzstücke auch: „Das will ich hier deutlich sagen … wir stehen dafür … und ich muss es hier sagen … und ich will hinzufügen … und es ist ja wahr … und das dürfen Sie mir glauben …“

Seine Erläuterungen zur Weltpolitik, zu Irak und UN-Weltsicherheitsrat kommen in Kassel besser an als in Emden: „Was immer entschieden wird, es bleibt dabei, dass unter meiner Führung deutsche Soldaten sich an einer militärischen Intervention nicht beteiligen werden!“ Für Bökel hat er keine Ehrenerklärung wie für Gabriel, sondern nur einen neutralen Hinweis, dass man schließlich „aus persönlichen Meinungsverschiedenheiten keinen persönlichen Konflikt“ machen müsse. Das Bekenntnis zu den Gewerkschaften fällt nicht so eindeutig aus wie in Emden, versteckt sich hinter Selbstironie: „Früher bin ich abgemahnt worden als der Genosse der Bosse, jetzt bin ich auf einmal der oberste Gewerkschaftsführer.“ Schröder spielt sich nur langsam an die hessischen Wahlkampfthemen Bildung und Familienpolitik heran und will, dass „Frauen leben können, wie sie wollen“.

Die Medienschelte zum Klatsch über sein Privatleben hält er kurz, „Doris“ kommt diesmal nicht vor. Die erdrückend schlechten Ergebnisse der Meinungsumfragen für die hessische SPD redet er hoffnungsvoll klein. Das habe er schon mehrfach erlebt. Er halte es wie die Niedersachen, wo „die Enten hinten fett“ seien. Und: „Die ersten Birnen sind meistens madig.“ Der Kanzler beendet seinen Vortrag frei nach Heinrich Heine: „Schlaget die Trommel und fürchtet euch nicht!“ Das nordhessische Publikum ist belesen. „Und küsse die Marketendrin!“, tönt es im Saal. Gerhard Schröder verabschiedet sich auch in Kassel ohne großen Schlussapplaus. Den hatte schon Gerhard Bökel bekommen.