Wenn Kritik vom Staat gelenkt wird

In China gibt es keine unabhängige globalisierungskritische Bewegung. Wo immer Fragen in diese Richtung auftauchen, reißen die Kommunisten die Debatte an sich. Ansonsten sind nur Andeutungen möglich, etwa auf die Schere zwischen Arm und Reich

aus Peking GEORG BLUME

Vor einem Jahr kam Martin Baker aus Amsterdam nach Hongkong, um die Leitung des chinesischen Greenpeace-Büros zu übernehmen. Ein bisschen Zeit zum Umschauen hatte er also schon. Doch von einer globalisierungskritischen Bewegung in China hat Baker bis heute nichts gehört. „Die chinesische Regierung ist ja selbst nicht hundertprozentig pro Globalisierung und unternimmt viel, um den Markt abzuschotten“, erklärt sich Baker den Mangel an Globalisierungskritikern. Zudem weiß er aus eigener Arbeit, dass sich Peking gerade gemeinsam mit Greenpeace gegen die Einführung genetisch manipulierter Gemüsesorten aus den USA wehrt. Baker hat damit eine Erfahrung gemacht, die viele unabhängige Kritiker im Land teilen: Wo immer neue Globalisierungsfragen auftauchen, versucht die Kommunistische Partei (KP) die Diskussion an sich zu reißen.

So geht es derzeit auch im neuen Streit um Arm und Reich. Gerade noch rechtzeitig zur Globalisierungsdebatte im Westen nahm der KP-Parteitag im vergangenen Herbst erstmals das dramatisch gewachsene Einkommensgefälle innerhalb Chinas offiziell zur Kenntnis. Seitdem wird das Thema von keinem Parteiblatt ausgespart. Das Ergebnis ist eine phasenweise durchaus globalisierungskritische Diskussion unter dem wachen Auge kommunistischer Zensoren. So stellten zwei Ökonomen des Pekinger Finanzministeriums kürzlich das chinesische Niedriglohnsystem in Frage: „Wirtschaftliche Globalisierung verlangt auch nach einer internationalen Angleichung der Löhne“, forderten Jia Kang und Liu Baojun. Doch ihre für China derzeit systemsprengende Forderung versteckten die Autoren in einem marktwirtschaftskonformen Plädoyer für die Entstehung höherer Einkommensklassen. Derart werden viele kritische Fragen in China heute zwar angesprochen, aber nur selten zu Ende gedacht.

Die Ausnahme machen die zwei Pekinger Intellektuellenblätter Dushu (Bücher lesen) und Strategy and Management. Sie bilden die einzigen, wenngleich einflussreichen Stimmen Chinas, von denen eine Globalisierungskritik zu hören ist, wie auch der Westen sie kennt. „Der Modernisierungsprozess steckt voller Widersprüche: Technische Errungenschaften müssen bekämpft werden – der Natur zuliebe. Man will zwar Demokratisierung, doch empfindet sie gleichzeitig als Vorherrschaft des Westens“, analysiert etwa der Pekinger Gelehrte Cao Tienyu.

Dushu-Chefredakteur Wang Hui ist übrigens auch Autor von Le monde diplomatique. Der taz schilderte er seine Reaktion auf den 11. September: „Bisher zählte ich mich zu den chinesischen Reform- und Globalisierungskritikern. Jetzt muss ich die Frage beantworten: Warum geht die Entwicklung bei uns weiter, aber anderswo nicht? Als Erklärung gibt es dafür bisher nur den säkularen Glauben Deng Xiaopings an Fortschritt, Entwicklung und Modernisierung.“ Wangs Schluss legt nahe, dass die chinesischen Kommunisten die Globalisierungsdebatte in Zukunft verstärkt prägen könnten.