Blinde Gedichte

Getrennt: In „Der große Tag“ wird der sechzig Jahre alte Briefwechsel zweier politischer Gefangener vorgelesen

„Ich werde Dir Glück bringen“, schreibt Marianne an Richard, irgendwann ganz zu Anfang, im Juli 1943. Und später: „Ich habe allen Glück gebracht, die mich geliebt haben.“ Beide haben sich nie gesehen. Marianne und Richard sitzen im Prager Gefängnis Pancraz, er in einer Männerzelle, sie bei den Frauen. Marianne hatte nach der deutschen Besetzung der Tschechoslowakei Juden von dort zur Flucht verholfen, Richard einen kommunistischen Freund versteckt. Den ersten Brief hat sie geschrieben und ihn über einen Wärter in die andere Zelle geschafft: „Wer ihn erhält und mir antwortet, der soll mein letzter Liebhaber werden.“ Marianne wartet ebenso wie Richard auf ihre Hinrichtung, auf den „Großen Tag“, wie die beiden ihn nennen.

„Der große Tag“: So heißt auch das Zwei-Personen-Bühnenstück, zu dem die Schauspielerin Eve Slatner die erhaltenen Briefe der Wiener Operettensängerin Marianne Golz und des jungen Juristen Richard Macha ergänzt hat und das jetzt im Theaterforum Kreuzberg aufgeführt wird. Ein Bühnenstück, bei dem konsequenterweise nicht wirklich agiert wird, sondern nur – vorlesend – geschrieben. Zwei voneinander getrennte Räume werden im Halbdunkel des Theaterraumes entworfen: Die beiden Zellen, in denen Marianne und Richard sitzen, sind durch zwei einzelne Tische angedeutet. Wenn Eve Slatner als Marianne und Stephan Wolf-Schönburg als Richard dann an diesen Tischen ihre Briefe schreiben, halten sie immer wieder inne, um zum anderen hinüberzuhorchen. Den Blick haben sie geradeaus gerichtet, oft ins Leere oder ins Weite, denn sehen können sie einander nicht. Aber sie können hören – die Stimme aus der Zelle nebenan, die ihnen erzählt, von sich selbst, von früher, über die Angst und die Liebe.

„Draußen“, außerhalb des Gefängnisses, kann man sich das „Drinnen“ nicht vorstellen, deshalb sind die Häftlinge in ihrem Warten auf den „großen Tag“ allein. Einander „Kraft und Phantasie“ schenken, das sollten sie, schreibt Marianne deshalb einmal an Richard. Sie redet ihm gut zu, informiert ihn über Nachrichten aus der Zeitung, die hoffen lassen – und er erzählt ihr von seiner Kindheit auf dem Land und schreibt ihr Gedichte, tschechische und deutsche, die er übersetzt. Marianne hat keine Angst vor dem Tod, nur vor dem Beil und der Verstümmelung ihres Körpers. Als Eve Slatner und Stephan Wolf-Schönburg sich beim Verbeugen an den Händen halten, möchte man fast daran glauben, dass auf diese Weise die Trennung der beiden, die wenige Monate nacheinander hingerichtet worden sind, doch aufgehoben ist. ANNE KRAUME

Wieder heute und morgen, 20 Uhr, Theaterforum Kreuzberg, Eisenbahnstraße 21, Kreuzberg