„Aber alle essen noch“

Die Ernährungssoziologin Eva Barlösius betrachtet die Grüne Woche unter gesellschaftlichen und kulturellen Aspekten: Auf der Messe werden soziale Illusionen jenseits der Realität inszeniert

Interview VERENA MÖRATH

Die Grüne Woche wird mit Schlagworten beworben wie „Weltmarkt der Ernährungsindustrie“ und „Schaufenster der modernen Landwirtschaft“. Aber sie ist weit mehr als das. Die Messe spiegelt gleichermaßen wider, in welchem gesellschaftlichen und politischen Klima unsere Lebensmittel produziert und vermarktet werden, wie wir unsere Ess- und Trinkgewohnheiten inszenieren und pflegen. Die Sozial- und Kulturwissenschaft des Essens ist zu einem regen Forschungsfeld herangewachsen. Die Ernährungssoziologin Eva Barlösius widmet sich der „Gesellschaft zu Tisch“.

taz: Was interessiert Sie als Soziologin auf der Grünen Woche?

Eva Barlösius: Wie die aktuellen Vorstellungen zur Agrarpolitik aussehen, wie die Pläne der EU, und wie diese aufgenommen werden. Aber als Kulturwissenschaftlerin interessiert mich insbesondere die Inszenierung der bäuerlichen Welt: Wie wird der Bauernhof dargestellt, welche Bedürfnisse werden damit befriedigt, wenn man kleine Schweinchen und Schäfchen streicheln darf und doch hinterher zur Fleischkeule greift?

Wie interpretieren Sie die Schau des „gedeckten Tisches“, ein neues Highlight auf der Grünen Woche nach dem Motto „Mehr Freude mit Genuss“?

Der „gedeckte Tisch“ ist die Illusion, dass man sich tagtäglich zusammen an seinen Tisch setzt, diesen ordentlich deckt und alles brav wieder abräumt. Darüber hinaus soll man glauben, dass man alles, was da angeboten wird, wirklich braucht. Aber es gibt immer mehr Singlehaushalte, die sich nicht um die perfekt dekorierte Tafel für 80 Gäste scheren. Der „gedeckte Tisch“ ist die Illusion eines vergangenen bürgerlichen Lebens und entspricht nicht mehr unserer Alltagspraxis.

Warum ist die Grüne Woche so ein Publikumsmagnet?

In den 50er- und 60er-Jahren bedeutete die Grüne Woche eine Schau des Überflusses. Heute geht man, neben der bloßen Demonstration des Überflusses, dazu über, Produkte zu präsentieren, von denen man sich einen bestimmten Gesundheitswert verspricht und ein besseres ökologisches Gewissen. Der Gang über die Messe ist vergleichbar mit dem Gang durch ein Kochbuch: Man informiert sich, lässt sich anregen und holt sich die Manieren ab, wie man zu Hause eine Mahlzeit zelebrieren sollte. Für die Landwirte ist es ein kollektives Ereignis, bei dem sie sich vergewissern: „Wir sind ein eigener Berufsstand“, und sich über gemeinsame agrarpolitische Interessen verständigen.

Sucht das Publikum im Zuge von Lebensmittelskandalen auch Rat im Sinne von: Was darf ich noch essen?

Unsere Lebensmittel sind, was die großen Risiken anbelangt, sicher. Nach den medialen und politischen Inszenierungen des BSE-Skandals kann man die Verbraucher nur noch schwer erschüttern.

Aber es heißt doch immer, die Verbraucher sind verunsichert …

Aber alle essen noch. Dann kommt wieder ein Skandal, es folgt ein Eierboykott, und nach zwei Wochen werden wieder Eier gekauft. Ein Hauptproblem des Ernährungsbereiches ist, dass er vornehmlich über Skandale diskutiert wird, aber dass man aus einem Skandal keinen langen Atem für einen grundlegenden Wandel im Umgang mit Essen und Ernährung beziehen kann. Die politisch gängigen Vorstellungen über Ernährungs- beziehungsweise Ökowende enden mit dem Kassenbon im Ökoladen. Das tagtägliche Essen und die Ernährungspraxis werden zu wenig behandelt und von der Politik nicht realistisch betrachtet. Dabei sind Über- und Fehlernährung und die daraus resultierenden Krankheiten unser eigentliches Problem, das hohe soziale Kosten verursacht.