Allein im Fleischesland

Inmitten des in Küchendingen eher rustikalen Mecklenburg-Vorpommern bietet das Gutshaus Stellshagen vegetarische Küche, Feng-Shui-Zimmer und fernöstliche Heilmethoden. Doch der spirituelle Neo-Hedonismus hat seinen Schrecken längst verloren. Ein Besuch

Die Reisegruppe quiekt vor Vergnügen. „Gibt‘s so was bei uns auch?“, fragt eine der weißhaarigen Frauen und füllt noch etwas ayurvedische Sauce auf ihren Wildreis. Mag ja sein, dass in Lübeck vegetarische Küchen existieren. Aber kaum so eine wie im Gutshaus Stellshagen nahe der Ostsee.

Hausgemachte Hefepasten und biodynamische Körnerensembles zum Frühstück. Mittags Kürbis-Fenchel in Orangenrahm mit Quinoa. Am Abend Buchweizenplätzchen an Beerenschaum. Essen ist nicht mehr nur eine Frage von Sättigungsgrad oder Geschmack. Es geht um Wissen und Bewusstsein. Und das wird nirgends klarer als hier am Rande des Fleischlandes Mecklenburg, wo pflanzliche Kost traditionell nur als Beilage zum Metzgereiprodukt vorkommt.

Dem Gutshaus Stellshagen verhilft das zu einer Art Monopolstellung an der Küste. In dem prächtigen Herrensitz herrscht ganzjährig Betrieb. Dreimal täglich bilden sich am Büffet Schlangen und keiner der Gäste aus der ganzen Republik, vor allem Berlin und Hamburg, erweckt den Eindruck, als sehne man sich statt Tofugulasch an Dinkelgemüse nach Kotelett mit Dosenmöhrchen.

Auch in der Umgebung leben „mehr Vegetarier als man denkt“, sagt die Besitzerin Gertrud Cordes. „Viele outen sich hier.“ Und zwar nicht nur als Fans alternativer Gerichte, sondern als ganzheitlich denkende Menschen mit einer gewissen Offenheit fürs Spirituelle. Medical Wellness heißt das Modewort. Die Heilpraktikerin Cordes füllt damit auf dem rückerworbenen Hof ihrer Großeltern eine Marktlücke – Wellness heißt im Osten oft Pool im Tophotel plus Spielplatz und Meerblick. Nicht aber Salzkristalllampen in naturholzmöblierten Niedrigenergiezimmern, Tibetische Ölmassagen und Biokost.

Das Gutshaus ist dank dieses Konzepts eines der bestbesuchten Hotels weit und breit. Der Gebäudebestand wird ständig erweitert, im Innern geht es fernöstlich zu. Yoga nach dem Erwachen, Lichttherapien zwischen den Mahlzeiten, Sauna vor der Nachtruhe – im atheistischen Mecklenburg gilt das als ebenso urbaner Quatsch wie Fleischlosigkeit. Die Nachbarschaft komme zwar – nicht zuletzt dank Jobs und Imagegewinn – gut mit dem Hotel klar, berichtet Cordes. „Aber als wir vor zehn Jahren angefangen haben, meinte ein Nachbar, er macht eine Haxenbude auf, damit die Leute mal satt werden.“ Heute zählt der Nachbar wie zu den Stammkunden.

Die Küche in Stellshagen beweist, dass vegetarisches Essen nichts mit Diät zu tun hat. Ein verlängertes Wochenende gleicht einer Mast-, keiner Fastenkur. Wer abends eine dritte Portion Seitangeschnetzeltes nimmt und sich trotzdem die Vollkornnockerln mit Pflaumen zum Dessert nicht verkneift, definiert Völlegefühl künftig wertfreier.

250 Euro kosten zwei Nächte mit Vollpension. Wer es billiger will, sollte auf die zugehörigen Massagen verzichten und als simpler Gast einchecken. Der spirituelle Neo-Hedonismus hat längst seine Sektenhaftigkeit verloren, im indisch gepolsterten Gemeinschaftsraum hängt nicht nur süßer Patschuliduft, sondern auch ein riesiger Flachbildschirm. In Birkenstocks geht niemand zum Diner. Und bei diesem wird auch weniger übers mystische Erleben beim vorherigen Qi Gong geredet, sondern eher im schwäbischem Akzent über Fußball.

Und nach der Völlerei am Büffet kann der Gast seiner Leidenschaft für Sport sogar praktisch nachgehen – im Badesee. Damit er sich den Orangenrahm nicht daheim, in der Normalität, wieder von den Rippen hungern muss. JAN FREITAG