Die erste Ökodiktatur der Welt

Der 11. Oktober 2005 ist der wichtigste Tag in der kommunistischen Parteigeschichte seit Dengs Wende zum Kapitalismus 1978. China will grün werden – das ist ein Plan für die ganze Menschheit. Ohne Otto hätte ich alles verpasst

Emission: China ist nach den USA der weltweit größte Emittent von Treibhausgasen. Derzeit produziert es mehr als 33 Prozent der weltweiten Emissionen. Der Pro-Kopf-Ausstoß liegt mit 5,1 Tonnen im Jahr noch immer deutlich unter dem der Industrieländer: Die USA haben 19,4 Tonnen, Deutschland hat 11 Tonnen. China muss seinen CO2-Ausstoß gemäß dem Kioto-Protokoll nicht drosseln. Kohlekraftwerke: Zwei Drittel seiner Elektrizität gewinnt China mit Kohlekraftwerken. 2007 werden pro Woche zwei neue Kohlekraftwerke eröffnet. Erneuerbare: Bei der Produktion von erneuerbaren Energien gehört China inzwischen zu den Besten. Der Anteil am Energiemix beträgt 7 Prozent. Allerdings wird der größte Teil davon durch Staudämme erzeugt. Einige von ihnen stehen für ein weiteres Kapitel besonders folgenreicher Umweltzerstörung.

Es ist der 11. Oktober 2005, ein Dienstag. In Peking tagt das fünfte Plenum des 16. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei. Was für ein Plenum? Ich denke, es ist spät, 20 Uhr, Zeit für den Feierabend. Doch Otto sagt: „Kommt nicht in Frage. Wir warten noch den Bericht des Zentralkomitees ab.“

Otto Mann ist seit den 80er-Jahren Korrespondent in Peking, erst für die DDR-Medien, später für die Berliner Zeitung und andere deutsche Blätter. Seit 1999 teilen wir uns in Peking ein Büro. Otto versteht mehr als die meisten deutschen Journalisten von den Vorgängen in der KP. Er weiß zum Beispiel, dass man jedes Jahr einmal im Herbst den ZK-Bericht studieren muss.

Ich aber denke an diesem Abend: Steht doch jedes Jahr das Gleiche drin. Dass die Partei ihre wirtschaftlichen Wachstumsziele erfülle und politisch die Stabilität Vorrang genieße. Mindestens seit 1999, seit Otto und ich die ZK-Berichte zusammen lesen, ist das so. Doch Otto kennt die Partei länger als ich. Er zählte Ende der 50er-Jahre zu den ersten DDR-Sinologen, die in der Volksrepublik studieren durften. Er verinnerlichte den historischen Moment vor dem dritten Plenum des 11. ZK der KP, als der kleine Steuermann Deng Xiaoping Chinas Wende vom Kommunismus zum Kapitalismus verkündete – und keiner im Westen ihn verstand.

„Das Denken befreien, die Wahrheit in den Tatsachen suchen, mit dem Blick in die Zukunft einig zusammenstehen“, forderte Deng am 13. Dezember 1978 in seiner einzigen öffentlichen Rede vor dem Plenum. Seit dem Tag ist in China kein Stein auf dem anderen geblieben.

Doch im Oktober 2005 liegt die berühmte dritte Plenartagung 27 Jahre zurück, und die Partei erscheint wieder unbeweglich wie eh und je. Deng war 1997 gestorben. Trotzdem hat es auch acht Jahre nach seinem Tod noch kein Nachfolger gewagt, an Dengs Dogmen zu rühren. „Wir müssen lernen, die Wirtschaft mit wirtschaftlichen Mitteln zu verwalten“, hatte Deng in jener Rede verfügt. „Wenn wir selbst von diesen Mitteln nichts verstehen, müssen wir von den Sachverständigen und von den fortschrittlichen Verwaltungsmethoden anderer Länder lernen“, so Deng 1978. Seither war am chinesischen Glauben an den westlichen Fortschritt nicht zu rütteln gewesen. Das ZK musste nur jedes Jahr die neuen Wachstumsziele proklamieren – der Zug war abgefahren. Ohne Steuermann. Niemand kontrollierte ihn mehr.

Entsprechend niedrig sind die Erwartungen im Herbst 2005: „Das Zentralkomitee wird die Vorlage für den elften Fünfjahresplan (2006–2010) billigen, einer politischen Agenda, von der man erwartet, dass sie den bisherigen Wachstumskurs fortschreibt, der das Land zur siebtgrößten Wirtschaftsmacht der Welt gemacht hat“, meldet die Agentur Reuters am 5. Oktober aus Peking. Ich will dem glauben und in den Feierabend. Otto nicht.

Endlich bekommen wir online die erste Meldung der kommunistischen Volkszeitung über die Ergebnisse des Plenums. Sie spricht nicht vom nächsten Wachstumsziel. Sie verkündet die Steigerung der Energieeffizienz um 20 Prozent als höchstes Ziel des neuen Fünfjahresplanes. Otto wundert sich. Ich jubele. Steigerung der Energieeffizienz, das bedeutet: Abbau alter Kohlekraftwerke und Investitionen in Wind- und Sonnenenergie, weniger in die zu teure Atomkraft.

Das bedeutet vor allem: Energie sparen, die Ressourcen schonen, weg vom Wachstum um jeden Preis. Für dieses Umdenken haben taz, Grüne und viele andere im Westdeutschland der 80er-Jahre lange Zeit gerungen, bevor es den westlichen Mainstream eroberte. Das neue Denken kam im Westen von unten. In China wird es an diesem Tag von oben verordnet. Der ZK-Beschluss 2005 beinhaltet eine weitgreifende parteiprogrammatische Palastrevolution in der KP. Er gibt den Startschuss für die erste Ökodiktatur der Welt.

„Die Kommunistische Partei hat gestern einen Wirtschaftsplan verabschiedet, der nachhaltigem gegenüber halsbrecherischem Wachstum den Vorrang einräumt“, schreibt am nächsten Tag die unabhängige Hongkonger Tageszeitung South China Morning Post (SCMP) auf ihrer Titelseite. Ganz unbemerkt bleibt die ökologische Wende der KP also nicht. Doch im Großen und Ganzen nimmt der Westen wie schon 1978 kaum Notiz.

Dabei wird seither mit jedem Tag klarer: Nach dem 13. Dezember 1978 ist der 11. Oktober 2005 der wichtigste Moment in der kommunistischen Parteigeschichte Chinas. Und 2005 geht die Welt mehr an als 1978. Unter Deng holte China nur auf. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts spielt China eine Führungsrolle. Umso wichtiger ist der ZK-Beschluss: „Ziel ist es, Wachstum mit weniger Mitteln zu erzielen“, analysiert die SCMP am 12. Oktober 2005 den KP-Plan. Es ist im Grunde ein Plan für die ganze Menschheit. Ohne den aktiven Beitrag der am schnellsten wachsenden großen Volkswirtschaft der Welt werden nachhaltiger Umwelt- und Klimaschutz immer illusorisch bleiben.

Yu Jie arbeitet im Oktober 2005 als Klimaexpertin im Pekinger Greenpeace-Büro. Sie liest den ZK-Beschluss mehrmals, sie kann es kaum fassen. 20 Prozent mehr Energieeffizienz innerhalb von fünf Jahren – „ein Himmelfahrtskommando“, denkt Yu.

Sie hat in den Jahren zuvor genau verfolgt, wie die KP mit ihren Energiezielen scheiterte. Wie der Energieverbrauch bis 2005 sogar schneller zunahm als das Wirtschaftswachstum. Sie hat beobachtet, wie die Nationale Reformkommission, in normalen Zeiten höchster wirtschaftspolitischer Entscheidungsträger des Landes, die Energieziele stets vor sich herschob, um dem Wachstum freie Bahn zu lassen.

Sie weiß auch, dass in den Schubladen der Ministerien, Think-Tanks und Regierungsinstitute im Oktober 2005 nirgendwo umfassende Pläne für die Steigerung der Energieeffizienz liegen. Sie weiß, dass im Zentralkomitee keine Energieexperten sitzen. Yu glaubt deshalb, dass der ZK-Beschluss von ganz oben kommt: von Staats- und Parteichef Hu Jintao und Premierminister Wen Jiabao, Nummer drei in der Parteihierarchie. Nur diesen zwei Männern traut sie die Weitsicht für die ökologische Wende zu. Sie hätten erkannt, dass die KP entweder grün werde oder scheitere – und einsam entschieden, sagt Yu.

Drei Jahre später, im September 2008, treffe ich Yu wieder. Sie arbeitet jetzt, immer noch auf dem Feld der Klimapolitik, für die Heinrich-Böll-Stiftung in Peking. Sie sieht heute die Wende von 2005 bestätigt. Zwar gelinge es nicht, die hohen Planziele zu erfüllen. 2006 konnte die Energieeffzienz nur um 1 Prozent, 2007 nur um 3 Prozent gesteigert werden. 20 Prozent Steigerung bis 2010 seien weiter illusorisch. Doch Chinas riesiger Partei- und Staatsapparat könne vor der Nachhaltigkeitsfrage nicht mehr fliehen. Jede Parteientscheidung bis zur Dorfebene werde jetzt auf das Prinzip der Energieeffizienz hin überprüft. Es gebe viele Widerstände. Das neue Denken setze sich nur langsam durch, es drohe ständig an der Realität zu scheitern. Dennoch lasse der Druck aus Peking nicht nach. Die Führung nehme sogar in Kauf, ihre Versprechen im Licht der Öffentlichkeit nicht einhalten zu können, sagt Yu.

Tatsächlich verzichtet heute kein westlicher Bericht über die chinesische Umweltpolitik mehr darauf, Peking seine nicht eingehaltenen Energiesparversprechen vorzuwerfen. Es ist wie in den 80er- und 90er-Jahren, als der Westen Peking vorwarf, seine Marktreformversprechen nicht einzuhalten. Das aber tut heute kaum jemand mehr.

Wird China in zehn Jahren auch seinen Nachhaltigkeitszielen deutlich näher sein? „Passt auf, in 15 Jahren haben wir hier aufgeräumt, und dann wird die ganze Welt China dankbar sein“, sagt der chinesische Internetunternehmer Charles Zhang, Chinas Bill Gates.

Das ist der typische chinesische Optimismus. Otto teilte ihn nicht. Er schaute auch im Oktober 2005 nur genauer hin als die meisten. Er wusste, dass die KP Chinas transparenter ist, als sie im Westen dargestellt wird. Dass ihre Beschlüsse nicht nur unleserlich sind, sondern dass sie zählen. Dass es Zeit und Geduld braucht, ihre Tragweite zu erkennen. Otto ist in diesem Jahr nach langer Krankheit gestorben. Ohne ihn hätte ich die ökologische Sternstunde der KP verpasst.

GEORG BLUME, Jahrgang 1963, ist seit 1997 taz-Korrespondent in China. Davor war er in Paris und Tokio. Sein neuestes Buch: „China ist kein Reich des Bösen“ (edition Körber-Stiftung).