Welche Farbe hat der Hunger?

Gerlinde Zorzi ist Ernährungswissenschaftlerin und Gestalttherapeutin und sagt: „Ich liebe die Menschen.“ In Seminaren und Einzeltherapien malen ihre KlientInnen und versuchen durch die Bilder, sich selbst besser zu verstehen

von LENA GORELIK

Gerlinde Zorzi weiß, wie es ist, wenn man sich in seinem Körper nicht wohl fühlt, „plump“ oder einfach „zu schwer, zu dick“. Sie kennt das Gefühl, vom Essen dominiert zu sein: „Ein guter Tag ist einer, an dem man es schafft, nicht viel zu essen.“ Sie kann auch gut nachempfinden, warum fülligere Menschen am liebsten weite Klamotten tragen. Gerlinde Zorzi ist Ernährungswissenschaftlerin und Gestalttherapeutin, und vielleicht kann sie ihren Klienten deshalb helfen, weil sie ihre Gefühle oft nachvollziehen kann.

Dabei war Gerlinde Zorzi nie wirklich übergewichtig, 15 Kilo zu viel hat sie eine Zeit lang gewogen. Aber jahrelang lief sie jeden Abend, wenn sie nach Hause kam, als erstes zum Kühlschrank, stopfte Essen in sich rein. Es hat lange gedauert, bis sie gelernt hat, vor dem Reinbeißen in sich zu gehen: Habe ich wirklich Hunger oder bin ich vielleicht unzufrieden, traurig, wütend? „Oft war ich einfach müde“, sagt die 46-Jährige heute, und: „Seit fünf Jahren fühle ich mich wohl in meinem Körper.“

„Aessthetik“ nennt Gerlinde Zorzi ihr Seminarangebot: Ernährungs-Gestalt-Kunsttherapie. Die meisten ihrer Patienten haben Essstörungen, sind übergewichtig, leiden an Bulimie oder fühlen sich einfach unwohl in ihren Körpern. Ein paar andere kommen wegen anderer Probleme: Unzufriedenheit im Job, in der Beziehung, im Alltag. Fast alle sind Frauen. Die Praxis ist karg eingerichtet, ein kleiner Tisch, zwei Korbstühle, eine große Staffelei voller Farbkleckse in der Ecke. Es riecht nach Farbe.

Jutta Pruchner ist „eine Klientin“, seit über zwei Jahren schon, und wie sie auf Gerlinde Zorzi kam, weiß sie schon gar nicht mehr: „Ich glaube, mich hat ihre Visitenkarte angesprochen.“ Wenn Jutta Pruchner in ihre Einzeltherapie kommt, redet Gerlinde Zorzi erst mal mit ihr. Irgendwann kommt dann die Frage: „Wie sieht das Gefühl aus, welche Farbe hat es, welche Form?“ Dann stellt sich Jutta Pruchner an die Holzwand, sucht sich Papier und Farben aus und versucht, ihre Empfindungen aufs Papier zu bringen. Später stellt die Kunsttherapeutin wieder Fragen: „Wie wirkt das Bild auf Sie? Was sehen Sie darin? Finden Sie es schön?“ „Es ist spannend, dass man im Bild die Antwort auf die Frage, wie es einem geht, findet“, sagt Jutta Pruchner.

Es sind unterschiedlichste Bilder, die dabei entstehen. Sie heißen „Schmerz“, „Knäuel“, „Wohin“. Ein blauer, zugeschnürter Sack mitten auf dem weißen Blatt stammt von einer Frau, die das Gefühl hat, ihr Hals sei zugeschnürt. Ein anderes Bild zeigt ein Haus, von dem drei Wege abgehen: ins Wasser, ins Feuer und über einen Berg. „Diese Klientin sucht nach einem Weg im Leben“, erklärt Zorzi. Ein Bild, auf dem ein Mensch vor einem schwarzen Hintergrund zu sehen ist, kommentiert sie: „Die Klientin tritt vor oder zurück.“ Der Mensch auf dem Bild hat dünne Füße, und die Therapeutin will wissen, ob die Malerin guten Bodenkontakt habe. Gerlinde Zorzi spricht von „inneren Bildern“, „unbewusstem Material“ und „Ausdruck seiner selbst“.

„Es läuft gut“, sagt die zierliche Frau, aber genug Kundschaft habe sie nicht. Sie lacht. Das liege am geringen Bekanntheitsgrad, denn Bedarf sei da: „Ernährungsprobleme sind mittlerweile eine Volkskrankheit.“ Diese Entwicklung merke man vor allem daran, dass Männer immer öfter an Bulimie leiden. Neben der Einzeltherapie macht sie Seminare zu Themen wie „Körperbilder“, „Berufliche Kreativität“, „Abnehmen“. Manchmal sind es zehn Teilnehmer, aber vergangene Woche hat sie eine Informationsveranstaltung gemacht, zu der keiner gekommen ist.

Die Südtirolerin, die seit 20 Jahren in Hamburg lebt, gibt in den Seminaren keine Diättipps. In Ernährungsprotokolle tragen ihre „KlientInnen“ ein, warum sie wann und was essen: Mit FreundInnen oder alleine, in welcher Stimmung, in welcher Situation. Gerlinde Zorzi sieht sich auf dem Weg des Verstehens als Begleiterin, die die Probleme aus der Distanz sieht. „Ich liebe die Menschen“, sagt sie. Sie wolle ihnen helfen, das eigene Essverhalten zu verstehen und sich in ihren Körpern wohl zu fühlen. Sie weiß, was für ein gutes Gefühl das ist.