Verzweiflung mit Blümchentapeten

Landparty zum Tanztheater: Im Rahmen des Tanztage-Festivals läuft das Stück „Ghost Letters III – Fest des Salzes“ des Choreografen Florian Bilbao. Die geneigten Besucher sollten sich auf eine Bustour mit Überraschungen einstellen

Zwanzig Besucher des Tanztage-Festivals fahren an einem trüben Sonntagnachmittag nichtsahnend raus aus der Stadt. In einem voll klimatisierten Reisebus geht es zu einer Vorstellung zeitgenössischen Tanzes in ein ehemaliges Irrenhaus außerhalb Berlins. Das mit dem Irrenhaus wissen wir am Anfang natürlich noch nicht. Auch nicht, dass der Aufführungsort ein altes Gutsschloss ist und aussieht wie Dornröschens Heim, nur ohne Hecke. Im Kurort Lanke, eine Stunde von Berlin entfernt, hält der Bus vor dem maroden Gebäude. Nach der Enteignung beherbergte das Haus ein Sanatorium für Lungenkranke, später wurden hier Psychiatriepatienten untergebracht.

„Reiseleiterin“ Catherine meint, wir sollten das Innere selbst erkunden. Wir gehen hinein und betreten eine verlassene Welt: drei Etagen mit leeren Zimmern, an den Wänden braun vergilbte Blümchentapete, über die an einigen Stellen das Wasser läuft, auf dem Boden braungrünes Linoleum, in den Waschbecken und Toiletten braune Roststreifen. Braun war noch nie die Farbe des Frohsinns, hier aber offenbart sie ihre deprimierende Hässlichkeit. Es ist, als könne man nicht atmen, als sei alles verstopft. Und plötzlich ist eine Frau da, die sich erst zwischen uns und dann ganz langsam an der Flurwand entlangschiebt, mit verdrehtem, traurigem Blick. Die Bewegungen ausführt wie in Trance und sich im Halbdunkel vortastet, bis sie eins der leeren Zimmer erreicht hat.

Dann steigt sie in eine Besenkammer, hält inne, guckt und steigt wieder hinaus. Springt und zappelt wie angestochen, hört dann abrupt auf, dreht sich mit dem Gesicht zur Wand, verharrt. Im Zimmer nebenan hockt eine zweite Tänzerin lange leblos auf dem Boden, bis sie sich ebenfalls in Slow Motion zu bewegen beginnt, um dann, einem scheinbar unerwarteten Impuls nachgebend, in schnelle abgehackte Gesten zu wechseln. Sie schreibt Wörter auf ein Blatt Papier, das sie später zerknüllt, wegwirft oder in klitzekleine Schnipsel zerreißt. Irgendwann geht sie fort, in ein anderes Zimmer.

Der französische, in Berlin lebende Choreograf Florian Bilbao erarbeitete „Ghost Letters III – Fest des Salzes“ gemeinsam mit Nicola Dahlinger, der Leiterin der Performance Art Company „Emerging Properties“ und vier Tänzerinnen. Es ist der dritte Teil eines Zyklus, der auf den Gedichten des amerikanischen Schriftstellers Richard McCann basiert. McCann schrieb in „Ghost Letters“ über seine Erfahrungen mit dem Tod seines Partners, mit Trennung, Trauer und Verlust. Dahlinger hat daraus an verschiedenen Orten wie dem Brompton-Friedhof in London und dem Friedhof am Halleschen Tor in Berlin Theater gemacht. Bilbao nun verlegt die theatrale Situation in einen offenen, kunstfremden Raum, konfrontiert den Zuschauer mit der körperlich dargestellten Krise, mit Verzweiflung, Depression und Endlichkeit, und er zeigt in der Rebellion gegen die Verzweiflung eine tiefe Schönheit.

JANA SITTNICK

Heute, 18., morgen, 19., und am 25. 1., jeweils 12 und 14 Uhr, Abfahrt ab Sophiensæle, Sophienstr. 18, Mitte