Demokratischer Blick

„Abbild der Wahrheit“: Im Willy-Brandt-Haus werden 135 Schwarz-Weiß-Fotografien aus dem großen „Archiv der Welt“ des Fotografen und Reporters Paul Almasy gezeigt

Selbst seine bislang größte Retrospektive mit 135 Schwarz-Weiß-Fotografien kann nur ein Schlaglicht werfen auf ein Werk, das ein „Archiv der Welt“ sein will. 120.000 Aufnahmen, dazu rund 1.500 Reportagen entstanden im Laufe von sechs Jahrzehnten beruflicher Tätigkeit. Und es ist die enzyklopädische Struktur seines Werks, das Paul Almasys von anderen Fotografen abhebt. Es rührt aus einem globalen Denken her, einem Interesse für die Welt und ihre Bewohner, das sich nicht an der Oberfläche erschöpft, sondern nach Hintergründen fragt.

Erst in den letzten Jahren ist der heute 96-Jährige einer größeren Öffentlichkeit bekannt geworden – 1999 war er „Fotopersönlichkeit des Jahres“ der Internationalen Fototage in Herten. Kurz davor war seine erste Monografie, „Zaungast der Zeitgeschichte“, erschienen, die seine heutige Rezeption als Fotograf einleitete, aber auch relativierte: Als Autor im künstlerischen Sinne hat er sich selbst nie verstanden, er war Fotojournalist. Dabei kannte er die Grenzen des Mediums genau. Was sich nicht zeigen ließ, hat er darum in seinen Reportagen beschrieben.

Nach einem Studium der Politischen Wissenschaften in Wien, München und Heidelberg hatte der gebürtige Ungar zunächst für Zeitungen geschrieben. Erst seit Mitte der Dreißigerjahre begann er zu fotografieren, anfänglich mit der Leica, nach dem Krieg mit einer Rolleiflex. Den Zweiten Weltkrieg erlebte er in Frankreich. Er wurde 1956 französischer Staatsbürger und lebt noch heute in diesem Land, das ihm einen anderen Blickwinkel eröffnete: Frankreich, die Kolonialmacht, die sich im Rahmen der Dekolonisation in die verschiedensten Kämpfe verstrickt sah und ständig neue Fronten und gesellschaftliche Gräben eröffnete.

Seine Reisen – bis auf die Mongolei hat er alle Länder der Welt besucht – führten Almasy schon früh rund um den Globus. Seine Auftraggeber, Unicef und WHO, schickten ihn ab den Fünfzigerjahren verstärkt in die so genannte Dritte Welt, über die er Reportagen machte, die von sozialem und humanitärem Interesse geleitet waren. Gleichzeitig aber zeigten sie auch die herrschenden Strukturen. Analphabetentum, die Stellung der Frau, Kindersterblichkeit, Wasserversorgung – die ewigen Probleme der Menschheit von Almasy in „sprechende Bilder“ verpackt, das größte von allen: die Armut.

Den Gegensatz von Arm und Reich spiegelt „Die zwei Seiten des Hügels“, eine preisgekrönte Aufnahme von 1954, die die Copa Cabana von hinten zeigt: Dicht an dicht wachsen die Hütten der Armen die Schattenseite des Hügels hinauf.

Almasy hat zeit seines Lebens Distanz gewahrt, ja gesucht, um ein „Abbild der Wahrheit“ zu schaffen: „Wenn ich Zeuge eines Ereignisses bin, habe ich keinerlei persönlichen Kontakt zu den Leuten, die auf den Fotos erscheinen“, und nimmt damit eine Gegenposition ein zu der seines Landsmannes Robert Capa, der gesagt hat: „Wenn deine Bilder nicht gut genug sind, warst du nicht nah genug dran.“ Almasy hat auf diese – seine – Art sehr demokratische Bilder geschaffen, ein Ansatz, der diesem Werk ungeahnte Aktualität verschafft.

ANN-CHRISTINE JANSSON,
MIRIAM WIESEL

Bis zum 1. Februar, Di.–So. 12–18 Uhr, Willy-Brandt-Haus, Stresemannstr. 28, Kreuzberg