Massenklage gegen Kita-Diktat

Krippen und Horte gibt es in Dresden fast nur noch für Kinder von Berufstätigen. Das könnte Nachahmer finden. Der Osten verliert letzten Standortvorteil: Kinderbetreuung für alle. Gericht klärt demnächst, wie sich Betreuungs-„Bedarf“ definiert

aus Dresden MICHAEL BARTSCH

In Dresden könnte sich die Zukunft der deutschen Kinderbetreuung entscheiden: Die Stadt hatte kurz vor Weihnachten alle 8.300 Krippen- und Hortplätze gekündigt, um sie fast nur noch an Kinder von Berufstätigen zu vergeben und so den desolaten Stadthaushalt zu entlasten. 200 Klagen wurden eingereicht; jetzt erging im Eilverfahren eine einstweilige Verfügung. Die Anwälte erwarten deshalb auch in der Hauptsache einen Erfolg.

Noch in dieser Woche wird zudem ein Prüfbericht des Regierungspräsidiums erwartet, ob die Kündigungen rechtmäßig waren. Beantragt wurde er von der SPD im Landtag, doch auch die CDU dort stimmte zu – obwohl die Union im Dresdner Stadtrat zusammen mit der FDP festgelegt hatte, dass Krippen- und Hortplätze nur noch vergeben werden, wenn beide Eltern eine Berufstätigkeit, Ausbildung oder einen „besonderen Hilfebedarf“ nachweisen können. Nach den neuen Dresdner Kriterien müssen auch Mütter im Erziehungsurlaub ihre älteren Kinder aus der Krippe nehmen. Unangetastet bleibt allerdings der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz, denn der ist bundesgesetzlich geregelt.

Der Stadtelternbeirat empfahl, zu klagen oder Widerspruch einzulegen. Rund 2.000 Eltern sind dieser Aufforderung bislang gefolgt. Vier Anwälte stellten sich zur Verfügung. SPD-Stadtrat Peter Lames, ebenfalls betroffener Vater und Kläger, warnte vor einer Unterschrift unter die neuen Betreuungsverträge, die eine weitere Verschärfung der Zugangsbedingungen ermöglichten. Als wenig erfolgreich erwies sich, den sächsischen Datenschutzbeauftragten anzurufen. Er konnte keine Rechtsverletzung darin erkennen, dass in Dresden neuerdings die Sozialdaten der Eltern erhoben werden, um Krippen- und Hortplätze zuzuweisen. Und für eine rechtliche Würdigung der Kündigungen sei er nicht zuständig, so Datenschützer Thomas Giesen.

Die Rechtsprüfung der Gerichte und der Landesregierung hängt am schwammigen Begriff des „Bedarfs“ in den Gesetzestexten. Im Sozialgesetzbuch VIII, insbesondere im Paragrafen 24, ist zwar von einem „bedarfsgerechten Ausbau“ des Betreuungsangebots die Rede, das sogar für alle Kinder im schulpflichtigen Alter ganztägig vorzuhalten sei. Aber auch das im Vorjahr novellierte sächsische Kita-Gesetz definiert diesen Bedarf nicht näher. Während der frühere sächsische Sozialminister Hans Geisler diesen Bedarf noch schlicht mit dem Elternwunsch gleichsetzte, hat ihn die Dresdner Stadtverwaltung kurzerhand mit ihren fiskalischen Möglichkeiten identifiziert.

Einer Rechtsklärung kommt große Bedeutung zu, denn die Dresdner Kita-Beschlüsse könnten weitere Nachahmer finden. Berlin kennt bereits vergleichbare Beschränkungen, Leipzig schreckte im Sommer des vergangenen Jahres noch vor einem ähnlichen Auswahlverfahren zurück. Doch in Sachsen-Anhalt will die CDU/FDP-Mehrheit im Februar eine Novelle des Kinderbetreuungsgesetzes verabschieden. Sie soll den von der früheren SPD-Regierung eingeführten Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz landesweit einschränken und zugleich die Landeszuschüsse für Kindertagesstätten drastisch kürzen. Damit würde einer der letzten Standortvorteile Ostdeutschlands preisgegeben. Dagegen regt sich Widerstand. In Magdeburg gründete sich bereits im Oktober ein „Bündnis für ein kinder- und jugendfreundliches Sachsen-Anhalt“. Getragen wird es von den Oppositionsparteien SPD und PDS und einer Volksinitiative „Für die Zukunft unserer Kinder“. Mit einem Volksbegehren will man das geplante Landesgesetz verhindern.