Nach dem Krieg droht Krieg

aus Diyarbakir JÜRGEN GOTTSCHLICH

Hanefi Isik ist enttäuscht. Ausgerechnet jetzt marschieren die Soldaten wieder. „Ich bin 50 Jahre alt, und bisher habe ich hier noch keine friedlichen, demokratischen Verhältnisse erlebt“, sagt der Sprecher der Menschenrechtsorganisation IHD für den kurdischen Südosten der Türkei. „Dabei gäbe es gerade jetzt eine Chance.“ Erst vor knapp sechs Wochen ist der seit über 20 Jahren andauernde Ausnahmezustand in den kurdisch bewohnten Gebieten der Türkei auch in den letzten zwei Provinzen aufgehoben worden, und nun, sagt Hanefi Isik, „soll es schon wieder losgehen“.

„Wenn in Diyarbakir tatsächlich US-Truppen stationiert werden, wird erneut die ganze Region remilitarisiert.“ Die Menschen wollten aber endlich ihre Ruhe haben. „Wir wissen aus eigener Erfahrung, was Krieg bedeutet.“

Die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) hatte nach der Verhaftung ihres Führers Abdullah Öcalan 1999 einen einseitigen Waffenstillstand erklärt. Daraufhin gingen die gewaltsamen Auseinandersetzungen in den Kurdengebieten stark zurück. Dem Krieg fielen seit 1984 rund 37.000 Menschen zum Opfer.

Um dem neuen Unheil nicht tatenlos zuschauen zu müssen, haben mehr als 60 zivile Organisationen in Diyarbakir eine „Friedensplattform“ gebildet und bereiten Veranstaltungen und Demonstrationen vor. Der erste Anlauf scheiterte jedoch an den Sicherheitsbehörden. Trotz Aufhebung des Ausnahmezustands haben sie eine für vergangenen Samstag geplante Großdemonstration nicht genehmigt.

Von einem Rückzug des Militärs in den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei kann man ohnehin kaum sprechen. Auf dem Weg von Diyarbakir an die türkisch-irakische Grenze reiht sich ein Militärlager ans andere. In Diyarbakir selbst sind auch die Kommandostäbe für den Südosten untergebracht. Vor allem aber liegt hier der größte Kriegsflughafen der Region. Die US-Luftwaffe möchte ihn bei einem Angriff auf den Irak nutzen.

Immerhin außerhalb von Diyarbakir und der die Stadt umgebenden Militärlager sind Straßensperren und Kontrollposten, die die Gegend noch vor wenigen Monaten prägten, mit Aufhebung des Ausnahmezustands verschwunden. Selbst in der unmittelbaren Grenzregion verzichtet das türkische Militär zurzeit auf Personenkontrollen. Stattdessen behindern jetzt, je näher man der Grenze kommt, Militärkonvois die Durchfahrt. Vor allem Cizre, eine Kleinstadt am Ufer des Tigris im syrisch-irakisch-türkischen Grenzgebiet, ist ein Heerlager. Rund um den Ort, auf jedem Hügel, sind Posten und Armeegelände eingerichtet worden, ein Anblick, der bei den Bewohnern unheilvolle Erinnerungen wachruft.

Im Bürgerkrieg mit der PKK war Cizre einer der wenigen Orte, die die PKK zeitweise kontrollierte. Entsprechend hart ging die türkische Armee hier vor. Anfang der 90er griff sie Cizre sogar aus der Luft an. „Im Moment“, erzählt Ahmet, ein Kurde, der einige Jahre in Deutschland gearbeitet hat, „ist es ruhig, aber das kann sich ja jeden Tag wieder ändern.“

Dagegen will sich Bedrettin Karaboga nicht über die Militärkonvois beklagen. Der Vorsitzende des ostanatolischen Industriellenverbandes Günsiad berichtet, dass der größte Auftrieb vor rund sechs Wochen stattfand. Damals, erzählt er, rollten hier pausenlos die Militärlaster, weil die Armee bereits ihren Nachschub für einen möglichen Irakkrieg herangeschafft habe. „Jetzt ist die türkische Armee bereit.“

Bedrettin Karaboga ist nicht glücklich darüber. Er ist von Diyarbakir zu Besuch ins Dorf seiner Familie gekommen. Von hier aus schaut man direkt auf die Grenze, eine schon in Friedenszeiten nur schwer zu überwindende Linie. Trotzdem hat Karaboga vor nicht allzu langer Zeit noch gute Geschäfte im Irak gemacht. Ihm gehören Mehlfabriken, und er lässt Kekse und andere Backwaren produzieren, die er im Irak innerhalb des „Öl für Lebensmittel“-Programms verkaufen konnte. „Doch schon seit dem 11. September 2001 wurde das Grenzgeschäft hier sehr schwierig. Der bevorstehende Krieg hat ökonomisch bereits jetzt alles ruiniert.“ Die Region, glaubt Karaboga, der seit vier Jahren dem Industriellenverband vorsteht, hätte nach dem Ende des Bürgerkriegs eine Chance gehabt. In der Gegend könnte gewinnbringend Baumwolle angebaut werden, mit dem Ausbau der Infrastruktur wäre der Handel wieder in Schwung gekommen, zudem biete das Land touristische Attraktionen.

Doch jetzt geht fast nichts mehr. Das Rückgrat der Wirtschaft in der Grenzregion bildet seit Jahren der halblegale Transport irakischen Schweröls in die Türkei. Rund 25.000 Kleinstunternehmer haben sich in den letzten Jahren Tanklastwagen angeschafft oder auf alten Lastern riesige Plastikwannen befestigt, in denen sie Öl aus den irakischen Städten Kirkuk und Mosul heranschafften. Der Job war schon immer riskant, denn letztlich wusste man nie, wie viele Tage man an der Grenze warten musste oder wie viel so genannten Zoll die Kurden auf der irakischen oder die türkischen Soldaten einem abpressten.

Tatsächlich ist am einzigen türkisch-irakischen Grenzübergang Habur fast niemand anzutreffen. Vielleicht 50 Lkws und Tanklaster stehen herum, immer in der Hoffnung, dass sich doch noch etwas tut. „Statt zu Hause rumzusitzen“, meint Sebahattin Demir resigniert, „kann ich auch hier vor der Grenze stehen.“ Vor zwei Wochen war er das letzte Mal mit seinem uralten Tanker auf der anderen Seite und holte in Mosul eine Ladung. Mit den endlosen Wartezeiten an der Grenze hat die Aktion fast drei Wochen gedauert und ihm zuletzt nur 200 Millionen Lira eingebracht – rund 120 Euro.

Jetzt hat der türkische Nachrichtenkanal NTV auch noch gemeldet, Saddam Hussein habe sämtliche Öllieferungen in das kurdische Autonomiegebiet verboten, also auch den Transit in die Türkei. Wenn das stimme, sagt Sebahattin Demir, sei das Geschäft völlig vorbei. Er hat die Schulden für seinen alten Tanklaster noch nicht abgezahlt und kein Geld mehr, um seine Familie zu versorgen.

Demir lebt mit seiner Familie in Silope. Der Ort, wenige Kilometer vor der Grenze, war bis vor sechs Wochen, bis der Ausnahmezustand aufgehoben wurde, quasi gesperrt. Journalisten kamen nicht weiter als zum letzten Armee-Checkpoint. Jetzt kann man weiterfahren und findet neben den meist recht armseligen Häusern der Öltransporteure nur noch eins: Militär. Unter Wellblech stehen geländegängige Panzerwagen aufgereiht, Plätze sind vorbreitet, um weiteres schweres Gerät aufzunehmen. In einer Kaserne kurz vor der Grenze soll der Kommandostab untergebracht werden, wenn der Krieg beginnt. Bisher drehen nur ein paar Rekruten lustlos ihre Runden.

Hofft Sebahattin Demir nicht wenigstens auf ein gutes Geschäft nach dem Krieg, vielleicht sogar auf engere Beziehungen zu den Kurden auf der irakischen Seite? Demir schüttelt nur den Kopf. Zu irakischen Kurden hat er keine Kontakte, und an einen friedlichen, demokratischen Irak glaubt er sowieso nicht. Seine Hoffnung liegt anderswo. Kürzlich war er in Istanbul, um sich nach Arbeit umzuschauen. Zwar hat er noch nichts gefunden, aber das kann ja noch kommen.