Ein unvergesslicher Höhepunkt im Leben

Versprochen ist versprochen: gute Laune und wildes Treiben auf dem Sechstagerennen in Berlin. Die meisten Räder drehen sich hier vorwärts, manche aber, wie das Rad der Geschichte, auch besonders schnell zurück – angetrieben von den Puhdys, der Radsport-Showband und einem Keyboard-Zonie

von ANDREAS GLÄSER

Im Januar stehen die Werbetafeln vor den Zeitungsläden für das Sechstagerennen, wenig später werden sie vom Winde verweht. Bild, B.Z. und Kurier berichten wohlwollend über den zunehmenden Showcharakter und die fairen Eintrittspreise. Im letzten Jahr fiel ich gerne auf die Werbung herein. Leider kannte ich nur einen, der da vielleicht mit mir hingehen würde, doch der war nicht in Berlin. Außerdem war er privat ein bisschen langweilig, so wie ich, und wenn einer den anderen nicht wiederbeleben konnte, brachte das für beide nichts. Immerhin hatte nach meinem Wissen Max Raabe beim Sechstagerennen Hausverbot. Diese Traditionsveranstaltung wurde nach dem Abriss des Schöneberger Sportpalastes ewig ausgesetzt, doch nach der Wende wiederbelebt.

Im letzten Jahr fand die 91. Veranstaltung statt. Entgegen der allgemeinen Erwartung interessierten sich die Berliner für den Radsport und weniger für das Trullalla. Vor dem Haupteingang des Velodroms, also der heutigen Berlin-Arena, ach hört doch auf zu spinnen!, kostete mich eine Karte 30 Euro. Dieses Velodrom versprühte den Charme eines Vorstadt-Disko-Betonklotzes. Im vorgelagerten Kaufhaus wollte mich jemand neu einkleiden. Menschen über Menschen. Zwei oder drei Moderatoren peitschen ihre Begrüßungszermonie auf uns ein. Wir mussten etwas erleben. Schultheiße Nächte aus Miniplastikbechern für jeweils 2 Euro 50. Die Puhdys sollten auftreten. Showtime – das Konzert. 30 Minuten. Waren das die Höhepunkte im Leben vieler Menschen, deren Leben nicht viele Höhepunkte hatte? Ich ging davon aus, dass sie hysterisch werden würden und mit ihnen auch ich. Die Moderatoren stellten alle 18 Zweierteams vor. Die wenigsten Leute hatten Lieblinge oder Feindbilder. Wenn einer der Moderatoren seine Stimme hob, sagte er im nächsten Moment etwas wie: „aus Berlin!“ Der ohrenbetäubende Lärm ging mir auf die Ketten. „Olé, olé olé olé, we are the champions.“ Ich stand im Innenraum, zwischen der Rennbahn und dem Prominentengehege. Das gemeine Fußvolk dominierte. Von der Stimmung war es angenehm überrascht. Anabolika-Prolls verrenkten sich nach knusprigen Jungfrauen.

Zeit für die Mannschaftsausscheidung. 18 Teams traten gegeneinander an. Die Fahrer zischten während der nächsten 15 Minuten an uns vorüber, wir verdrehten unsere Köpfe, sahen aber kaum etwas. Alle zwei Runden flog das jeweils letzte Zweierteam raus. Irgendjemand hatte den Preis vom Autohaus gewonnen, vor dem die Leute früher stundenlang anstehen mussten, obwohl sie ohne Beziehungen keine Chance auf eine rostige Radkappe hatten. Wieso lief ein Wettbewerb nur eine Viertelstunde? Früher fuhren sie doch sechs Tage im Kreis herum, mit drei Stunden Unterbrechung am Tag, oder? Jemand sagte mir, dass das Sechstagerennen ein abgesprochener Zirkus sei. Richtige Friedensfahrer würden sich dort nicht ihren Ruf versauen.

Jedenfalls nahm ich mir vor, bis zur großen Schultheißjagd zu bleiben. Schultheiße Nächte – Ehrensache. Eine Bockwurst kostete 2,50, ein fairer Preis, wenn er noch in D-Mark zu zahlen gewesen wäre. Neben dem Wurst- und Fleischstand wollten einige Leute auf der Absperrungsbalustrade stehen und den Vorbeifahrenden zujubeln. Ein Security-Traumpaar pirschte sich heran. Es konnte nichts dafür, dass die Boulevardpresse gute Laune und wildes Treiben versprochen hatte. Wahrscheinlich hatten die Sicherheitsleute während dieser knappen Woche nur jeweils drei Stunden Schlaf am Tag. Und dann noch diese alltäglichen musikalischen Infernos, wie die Showband aus Berlin.

Die Fahrer unterbrachen ihre Umdrehungen. Eine kleine Bühne wurde eingenebelt, um die Aufmerksamkeit auf das Musikanten-Sammelsurium zu lenken. Heute waren sie die Radsport-Showband im Velodrom, morgen die ABBA-Attrappe im Käsekaufhaus. Sie rockten los, mit irgendeinem 80er-Jahre-Ami-Mainstream-Hit, der zu Recht in Vergessenheit geraten war. Der Sänger machte eine ähnliche Figur wie der Kanzler beim symbolischen Anstoß eines Fußballspiels. Die nebenher tanzende Blondine beschränkte sich vorerst auf ihr Background-Gezetere. Natürlich würde ihr die Quotenregelung 5 Minuten als Tina-Turner-Attrappe zubilligen. Aus der Ecke der Absperrungsbalustraden-Erstürmer ertönten die ersten Pfiffe. Während der folgenden Nummer räkelte sie sich zu einem James-Bond-Tina-Turner-Song. Nach ihr sang ein Keyboard-Zonie. Er hatte im Leben nie eine Chance gehabt. Viele Besucher spendeten Höflichkeitsapplaus. Die Moderatoren hinter dem Panzerglas bedankten sich für uns bei ihnen. „Das war die Showband! Und nun wieder ein wenig Musik, bevor es hier weitergeht mit der dreißigminütigen Bewag-Jagd, mit dem Zweier-Mannschaftsrennen!“

Vor dem Bierstand sah ich meine Lieblingslottofee. Sie hätte mich vor der nächsten Währungsumstellung bewahren können, doch sie ignorierte mich professionell und stahl sich lasziv davon. Vom Tonträger erklang „Und dann die Hände zum Himmel, wir wollen fröhlich sein!“. Die Leute, die ich bei Fußballspielen immer als Rechte eingeordnet hätte, ließen bei diesem Lied die Hände in den Hosentaschen, was bewies, dass ihnen zumindest der Musikgeschmack nicht abhanden gekommen war.

„Liebe Radsportfans, liebe Besucher des 91. Berliner Sechstagerennens! Showtime! Aus Berlin: Die Puhdys!“ Aus dem Nebel traten Maschine und Co. „Hallo Berlin! Wir sind die Puhdys! Wir freuen uns, hier auftreten zu können, beim, äh, Sechstagerennen!“ Riesenjubel. Ich hätte mit eingestimmt, wenn Maschine etwas vom 62. Sechstagerennen erzählt hätte. Los ging es aber mit einer eher unbekannten Nummer der Nachwendezeit. Kein Knaller, aber wahrscheinlich ein Schlager auf Antenne Brandenburg. Und dann Hit auf Hit. „Geh zu ihr“. „Alt wie ein Baum“. Die Puhdys spielten ihr Eisbären-Lied und tausende sangen: „Wir haben die Eisbären so gern!“ Wahrscheinlich hatten Maschine und Co. den Wellblechpalast keine dreimal von innen gesehen. Zugaben wurden gefordert. Maschine nahm die Chance wahr, um das Rad der Geschichte zurückzudrehen. „Hallo Berlin! Wir spielen für euch noch einen Song! Aber nur, wenn ihr alle mitschunkelt!“ Ich wurde eingezwängt, untergehakt und verschaukelt. Nun war ich reif für den Rückzug. Ja, diese Veranstaltung war ein Höhepunkt in meinem Leben gewesen.