Der Wettlauf ist offen

Nicht der Fokus auf „Wirtschaft“ oder „Soziales“ unterscheidet die Foren von Davos und Porto Alegre – sie unterscheidet, was sie grundsätzlich unter „der Welt“ verstehen

Die Trennlinie zwischen beidenForen ist heute viel eindeutiger als vor zwei Jahren

Seit gestern buhlen zum dritten Mal in Folge zwei multilaterale Instanzen um die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit, die nicht den Vereinten Nationen unterstehen, aber dennoch eine einflussreiche, wenn nicht gar normgebende Rolle spielen. Auf der einen Seite wird sich das nach Davos zurückgekehrte World Economic Forum (WEF) darum bemühen, von der untergegangenen Globalisierung, die in den 90er-Jahren noch so glänzte, wenigstens die notwendigsten Werte zu retten. Auf der anderen Seite gewinnt das Weltsozialforum (WSF), zum dritten Mal im brasilianischen Porto Alegre, weiterhin an Macht, indem es sich als Ort der Analysen, Beratungen und Alternativangebote einer „Global Governance“ als unumgänglich zu erweisen versucht.

Ihr Wettstreit, der noch Anfang 2002 ausgeglichen erschien, ist künftig ungleich – sowohl in „qualitativer“ als auch „quantitativer“ Hinsicht. Das WEF, das sich ununterbrochen an allen Fronten abmühen muss, verliert seinen Wert. Währenddessen steigt der Wert des WSF unaufhörlich, und seine ernsteste Sorge besteht vor allem darin, ein „gutes Wachstumsmodell“ auszuwählen (nach dem Beispiel aller Start-ups). Das dreißigjährige WEF kann sich nicht mehr vom oligarchischen Paradigma befreien, auf dem es gegründet ist. Zudem hat es sogar entschieden, dies zu akzeptieren, indem es die Anzahl seiner Teilnehmer und Gäste im Vergleich zu 2002 reduziert, und zwar mit dem Argument, man wolle auf dem diesjährigen Forum ein „produktives Umfeld sicherstellen“ (nach dem Motto „Je weniger närrisch die Runde, desto größer die Effizienz“).

Das noch junge WSF für seinen Teil strebt eine gewisse Reife an, indem es die Zahl seiner Delegierten mehr als verdoppelt (29.700 in diesem Jahr anstatt 12.300 im vergangenen). Sie werden von den dort repräsentierten beinahe 5.000 Organisationen zu den Workshops und anderen Aktivitäten gesandt.

In Hinsicht auf sein Programm verbleibt das WEF in seiner Abwehrstellung, die es 2001 mit dem quälenden Thema der „Brüche“ und 2002 mit dem der „Führerschaft in unsicheren Zeiten“ eingenommen hat. 2003 heißt es nun „Vertrauensaufbau“ – was in Wirklichkeit Wiederaufbau eines nach allen Seiten hin verlorenen Vertrauens bedeutet. Das „Globale“ der ehemals triumphierenden „Globalisierung“ befindet sich in der Krise, und diese ist zuallererst eine interne und externe Vertrauenskrise, die – sowohl vereinzelt als auch generell – die „industrialisiertesten“ Länder genauso wie die „rückschrittlichsten“ berührt. Die Skistation von Davos wird also wieder zum mondän-maroden Sanatorium, das schon Thomas Manns „Zauberberg“ als Schauplatz gedient hat. Und dieses Sanatorium ist nichts anderes als das der „Globalisierung“.

In Porto Alegre denkt man im Gegenzug nicht so sehr an eine Klinik, sondern vielmehr an das Produzieren alternativer Methoden und Szenarios für eine Globalisierung, die in zahlreichen Bereichen versagt hat – insbesondere in denen der sozialen Gerechtigkeit und des Kampfes gegen die Armut. Dies spiegelt sich genau in den Themen von 2003 wider: Behandelt werden die Fragen der Erzeugung von und des Zugangs zu Reichtum; die Neuformulierung von politischen und ethischen Fragestellungen und die Rolle der Zivilgesellschaft und der Öffentlichkeit in den laufenden Mondialisierungen – unter denen ein erweiterter Begriff der Globalisierung zu verstehen ist, der über die Dimensionen von Wirtschaft und Finanzen hinausgeht. Die Ambitionen des WSF sind also hoch angesetzt, dennoch bleiben sie konzentriert auf die wachsende Besorgnis gegenüber dem „menschlichen Gesicht“, das man der Globalisierung geben muss.

Zwischen beiden Foren verläuft daher eine noch viel eindeutigere Trennlinie als während der ersten Auflage des WSF 2001. Das think global des WEF betrifft nämlich die Unternehmen (und in erster Linie die Major Players), die großen „Zivil“gesellschaften und Staaten. Es hat seinen Ursprung in einer Art buchhalterischer Weltanschauung von einem grundsätzlich stark strukturierten Globus, auf dem eben genau die Optimierung der etablierten Modelle und Regeln zum Vorteil der gegenwärtig Führenden und die Zementierung ihres Führungsanspruchs zählt. In diesem Sinne kann man gut und gerne von einer Abwehrstellung sprechen, und zwar einer Logik und Rhetorik, die sich entschlossen auf das Fortbestehen der gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse, welche das auch immer sein mögen, hin orientieren (daher das oberflächliche Bewusstsein des ideologischen „Eklektizismus“ …)

Dagegen spricht sich das WSF für eine richtig offensive Strategie mit offener Logik aus. Im Gegensatz zum WEF (das nur Dank der Unterstützung durch seinen Club der Unternehmensmitglieder existiert) – und übrigens auch zur allgemeinen Auffassung – hat es keine festgelegte Klientel zu befriedigen. Nicht Gewerkschaften, Verbände oder NGOs stehen in Porto Alegre im Brennpunkt, seine Klientel ist „die Welt“ – eine Welt der Bürger, die sich ihrer Rechte und Pflichten bewusst sind. Ihre Entwicklungen wollen sie meistern, ohne dominierende Einzelinteressen zu berücksichtigen. Sie streben eine Welt der Bürger an, in deren Fragestellungen sie sich alle wieder erkennen (etwa über den Respekt der Deklaration der Menschenrechte von 1948, der Toleranz, der Würde; über den Fortschritt der Demokratisierung und der Bildung) – selbst wenn ihre persönlichen oder professionellen Interessen dazu führen können, dass sie einige dieser Fragestellungen negieren oder verwerfen. Das WSF hat demzufolge einen viel erheblicheren Handlungsspielraum als das WEF, während jedoch der Umfang seines Unterfangens es gleichzeitig auf maßgebliche Überlegungen über seine Mittel und Methoden beschränkt.

Letzten Endes sind es nicht die beiden Adjektive „wirtschaftlich“ und „sozial“, die wirklich die beiden Foren im Januar unterscheiden. Vielmehr unterscheidet sie grundsätzlich voneinander, was sie beide jeweils unter „der Welt“ verstehen und was das Verhältnis zu „global“ und „mondial“ ausmacht, welches ihre Programme entweder explizit oder unbestimmt definieren. Es ist die Vorstellung selbst über die Welt, über ihre Konturen und Inhalte, über das, was sein kann und sein sollte. Diese abweichenden Vorstellungen, die die unterschiedlichen Identitäten dieser zwei Foren begründen und ganz sicher auch ihr Schicksal bestimmen. Was steht auf dem Spiel und was muss erreicht werden? Ein Globus, dominiert von großen Unternehmen, Organisationen und mächtigen Staaten und mit der Aufgabe, die „Brüche“, die „Unsicherheit“, und die Vertrauensdefizite zu beseitigen? Oder vielleicht doch eher eine Welt mit gut informierten, solidarischen Bürgern, vereint durch gemeinsame Werte und willens, langfristig für alle Demokratie, Einheit und nachhaltige Entwicklung aufzubauen? Dies steht zur Wahl, und die Wetten für dieses Spiel dürfen gesetzt werden!

Das Globale der ehemals triumphierenden Globalisierung ist in der Krise

FRANÇOIS DE BERNARD

Übersetzung von Jana Grune