Der Feind von der Tankstelle

Er ist nicht bloß Verlierer der Mutter aller Schlachten, sondern auch Vater des irakischen Reichtums

von JÜRGEN GOTTSCHLICH

Langsam kippt die Maschine nach vorn, verliert schnell an Höhe, rast auf das Dorf zwischen den Hügeln zu. Auf Baumwipfelhöhe dröhnt der amerikanische Sikorski-Militärhubschrauber über zerstörte Häuser und Bombentrichter hinweg. „Look, look“, schreit der irakische Begleitoffizier gegen den Lärm, „we bombed them, why should we use gas?“ Als der Hubschrauber in einem anderen, völlig zerstörten Dorf landet, marschiert ein irakischer Offizier schnurstracks auf einen der wenigen stehen gebliebenen Obstbäume zu, schnappt sich ein Blatt und steckt es demonstrativ in den Mund. „Kein Gift, sehen Sie?“ – „Sie alle“, sagt der Iraker zu den Journalisten die mittlerweile aus den insgesamt fünf Hubschraubern geklettert sind, „sind Opfer der iranischen Propaganda.“

Rechtfertigungsexpeditionen wie diese hatte Iraks Staatschef nötig in jenem Frühjahr 1988. Denn die Welt hatte die Bilder aus der kurdischen Kleinstadt Halabja gesehen. Mehr als 5.000 Menschen – Alte, Frauen, Kinder, selbst Babys – lagen im Freien, mit verrenkten Gliedern und merkwürdigem Schaum vor dem Mund. Opfer eines Nervengases, das irakische Hubschrauber abgeworfen hatten und das in wenigen Minuten das Leben in Halabja auslöschte. Iranische Truppen führten Journalisten in den Ort, um zu zeigen, wie Saddam Hussein mit seinem Volk umgeht. Systematisch, so lautete der iranische Vorwurf, setze Saddam im Krieg gegen den Iran chemische Waffen ein – auch gegen die eigene Bevölkerung.

Damals wollte die Welt, wollten insbesondere die Führer der westlichen Welt den ersten großen Giftgaseinsatz seit dem Ersten Weltkrieg nicht zur Kenntnis nehmen. Nach Meinung des damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan, der britischen Premierministerin Maggy Thatcher und der Nato-Führung in Brüssel verteidigte Saddam in dem acht Jahre dauernden Krieg gegen den Iran die freie Welt vor der islamischen Aggression aus Teheran; da durfte man zur Not zu etwas unschöneren Mitteln greifen.

Diese Einschätzung hat sich nun geändert. Dass Saddam Hussein, 66 Jahre alt und seit 1979 Präsident des Irak, heute oberster Chef der „Achse des Bösen“ sein soll, gehört zu den verwirrenden Winkelzügen der Weltgeschichte und hat nur bedingt mit der Person des Diktators zu tun. Saddam war – und ist es nach wie vor – ein politisches Produkt der Region, das sich nur graduell von Leuten wie dem verstorbenen syrischen Diktator Assad, dem Libyer Gaddafi oder selbst dem Ägypter Mubarak unterscheidet. Alle diese Regime gingen aus Militärputschen gegen korrupte, von den britischen Kolonialherren eingesetzte Monarchen hervor. Die Führungsfiguren sind säkulare, arabische Nationalisten und alle nicht demokratisch legitimiert. Alle erhielten ihre Macht mit Gewalt, und für alle sind individuelle Freiheits- und Menschenrechte Floskeln, mit denen westliche Regierungen sie traktieren. Was Saddam von seinen Kollegen unterscheidet: Ihm fehlt eine militärische Ausbildung. So mussten seine Generäle unsinnige Befehle befolgen, im Iran- und im Kuwaitkrieg hatte dies katastrophale Folgen.

Zunächst, als sie 1968 die Macht ergriffen, galten General Ahmed Hassan al-Bakr, der Vorsitzende der Baath-Partei und seine rechte Hand Saddam Hussein als arabische Sozialisten, die ihr Land aus den Fängen des Kolonialismus befreiten. Als Saddam im Auftrag von Präsident al-Bakr 1970 erstmals die „revolutionäre“ irakische Armee gegen die aufständischen Kurden im Norden des Landes in Bewegung setzte, wurde er von der europäischen Linken unterstützt, weil die Kurden als Agenten des amerikanischen und israelischen Imperialismus galten. Entsprechend dieser Wahrnehmung führte Saddams erster Schritt aufs internationale Parkett nach Moskau, wo er die Sowjets für einen Freundschaftsvertrag mit dem irakischen Sozialismus gewann. Dieser Vertrag war ein Coup, weil er dem Irak Waffen beschaffte, die es erlaubten, mit den Kurden aus einer Position der Stärke zu verhandeln, und, wichtiger noch, die Verstaatlichung der Ölindustrie außenpolitisch absicherte.

Als die Baath-Partei 1968 an die Macht kam, wurde das irakische Öl in Mosul und Kirkuk von der „Irak Petroleum Company“ ausgebeutet. Dahinter verbargen sich die Ölkonzerne BP, Shell, Esso, Mobil und die französische CFP. Heute gehen westliche Medien fast automatisch davon aus, dass Saddam in der irakischen Bevölkerung wegen seines menschenverachtenden Regimes verhasst ist und sich eine Mehrheit gegen ihn ausspräche, dürfte sie frei wählen. Doch das ist selbst heute nicht so sicher, denn Saddam ist nicht nur der Verlierer der „Mutter aller Schlachten“, sondern zunächst der Vater des irakischen Reichtums. Saddam war es, der 1972 die Konzerne hinauswarf, die Ölquellen verstaatlichte und das Land reich machte. Vor dem Baath-Putsch 1968 erhielt der Irak von den Konzernen nur 476 Millionen Dollar jährlich. 1980, als Saddam sich auf der Höhe seiner Macht befand, verdiente der Irak im Jahr 26 Milliarden Dollar aus dem Ölgeschäft.

Mit diesem Geld baute Saddam nicht nur seine Paläste, sondern machte aus der irakischen Agrargesellschaft einen modernen Staat. Bildung, Gleichberechtigung für Frauen, Gesundheitsversorgung, Arbeitsplätze, gutes Einkommen – für die Mehrheit der Iraker waren die 70er-Jahre goldene Jahre. In dieser Zeit führte Saddam erneut Krieg gegen die Kurden, er unterstützte die radikalsten Palästinensergruppen von Abu Nidal und Waddi Haddad und beherbergte die deutsche RAF. Doch die Grundlage für seinen heutigen schlechten Ruf schuf er mit seinem Drang nach Unabhängigkeit. Als Nationalist wollte Saddam weder auf die Sowjets noch auf die Franzosen und schon gar nicht auf die USA angewiesen sein, was in seiner Logik bedeutete: Er musste die Waffen, die er brauchte, um sich Respekt zu verschaffen, selbst herstellen können.

Saddam war reich und konnte sich kaufen, wovon Assad, Nasser und auch Gaddafi nur träumten – Waffen, mit denen man Israel etwas entgegensetzen konnte. Saddam wollte eine „arabische Atombombe“, um mit Israel gleichzuziehen. Die Bombe hätte Saddam automatisch zum arabischen Führer gemacht. Jacques Chirac, damals Premier, heute Präsident Frankreichs, verkaufte ihm 1975 für 3 Milliarden Dollar einen Versuchsreaktor, der waffenfähiges Plutonium hätte herstellen können. Auch biologische und chemische Waffen beschaffte sich Saddam unter den Augen westlicher Nachrichtendienste.

Selbst sein folgenschwerster Fehler, der Angriff auf den Iran im September 1980, brachte ihn dem Westen nur näher. Es gibt sogar Quellen, die behaupten, zu der Entscheidung, die Mullahs anzugreifen, hätten die USA ihn inspiriert. Der frühere Sicherheitsberater des damaligen US-Präsidenten Jimmy Carter, Georg Slick, sagt, sein Nachfolger Zbigniew Brzezinski habe sich im August 1980, nach der Geiselnahme des US-Botschaftspersonals in Teheran, mit Saddam getroffen und ihn zum Angriff auf den Iran ermuntert. Nach dem Regierungswechsel in Washington war es dann der heutige Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, der im Auftrag von Präsident Reagan den Kontakt zu Saddam hielt. Selbst Saddams Angriff auf Kuwait 1990, mit dem er sich die Mittel für den Wiederaufbau seines durch Golfkrieg I zerstörten Landes beschaffen wollte, folgte diesem Muster.

Zwei Wochen vor Beginn von Golfkrieg II traf Saddam die US-Botschafterin im Irak, April Glaspie, und ließ sich versichern, dass die USA sich in die irakisch-kuwaitischen Grenzstreitigkeiten nicht einmischen würden. Später sagte die Diplomatin, sie habe die Drohungen nicht ernst genommen. Die Folgen der US-Versicherungen sind bekannt und haben den Irak dahin gebracht, wo er bis zum 11. September 2001 stand: Das Land mit den zweitgrößten Ölreserven der Welt wird im Innern von einem Diktator zusammengehalten und von außen durch die Sanktionen gehindert, sein Öl auf den Markt zu bringen. Das schaffte Stabilität und erlaubte den USA in Zusammenarbeit mit den Saudis, den Ölmarkt einigermaßen zu kontrollieren.

Außer der irakischen Bevölkerung, die unter den Sanktionen leidet, stellte dieses Arrangement alle zufrieden. Saddams finaler Aufstieg zum Bösewicht Nummer eins hat nun nicht damit zu tun, dass der Iraker über Leichen geht oder einen Faible für Atomwaffen hat – beides weiß die Welt schon seit 1975 oder doch spätestens seit dem Giftgasangriff auf Halabja 1988 – sondern damit, dass die USA seit dem 11. September ihr Vertrauen in die Saudis verloren haben.

Die Zeit für die brachliegenden irakischen Ölfelder ist gekommen, und Saddams „Giftliste“ soll den Einmarsch rechtfertigen: „Seine Zeit läuft jetzt aus“, sagt US-Präsident George W. Bush. Wird der Mann, der die irakischen Ölquellen vor 30 Jahren verstaatlichte, nun freiwillig die zweitgrößte Tankstelle der Welt frei machen und ins Exil gehen, wie wohl ein Teil der US-Regierung und ihrer Verbündeter hofft?

Saddams gesamte Karriere beweist, dass er kein Psychopath ist, der für seine Vision mit fliegenden Fahnen in den Untergang rennt. Saddam ist ein Machtpolitiker, der sich in seinem Bezugsrahmen rational verhält. Er würde das Exil wohl dem Untergang vorziehen. Aber er hat zu oft andere unter Vorspiegelung falscher Versprechen in den Tod geschickt, als dass er jetzt irgendwelchen Sicherheitsgarantien für das Exil vertrauen könnte. So bleibt ihm nichts übrig, als abzuwarten und sich an seiner eigenen Rhetorik zu berauschen.