: Kunstschnee in der Favela
Mit Schaumstoff und Holzstrohhaar: Das Helmi Puppentheater verlegt Goethes Klassiker nach Brasilien und gibt im Ballhaus Ost „Faust auf Faust“ zum Besten
Da steht er nun, der arme Tor. Margarida drückt ihm ihre 16 Kinderlein in den Arm. „Aber ich habe doch nur einmal mit dir…“, protestiert Faust kleinlaut. Gretchen haucht ihm einen beiläufigen Kuss zu und geht mit Mefi, Valentino und Co. auf die Piste.
Es ist dies das geradezu feministische Ende, das sich die Puppenspieltruppe Das Helmi für den großen Doktor ausgedacht hat. Ihre schrottigen Schaumstoff-Drahtwesen haben von „Ödipus“ über „Hänsel und Gretel“ bis „Leon, der Profi“ bereits alle möglichen Literatur- und Filmgrößen verkörpert, nun ist im Ballhaus Ost der deutsche Großdenker an der Reihe. Für ihre „Faust“-Variante machen sich die Helmianer auf bewährt mülliger Pappkarton-Bühne mit bestgelaunter Respektlosigkeit über die Vorlage her.
Das ist, auch dank der fetzigen Songs, rasend komisch – und ziemlich frei nach Goethe. Weil „Faust auf Faust“ beim deutschen Kulturfest São Paulo im Juli uraufgeführt wurde, hat man auch die Dramenfiguren nach Brasilien umgesiedelt: Faust wird in der Heimat nicht mehr genug Anerkennung zuteil; er will seine Schöpfungen nun auf brasilianischen Mikrochip-Messen an den Mann bringen. Für all seine genialen Ideen bekommt die Faust-Puppe, die von Helmi-Ideengeber und Regisseur Florian Loycke bespielt wird, einen extragroßen Schaumstoffkopf mit tiefer Denkstirnfalte.
Doch auch jenseits des Atlantiks kann Faust nicht so richtig landen, und Wagner (Brian Morrow) nervt hier genauso, wenn nicht noch mehr. Selbst die passenden Verse zum Osterspaziergang drohen dem Gelehrten zu entfallen. Der Pudel ist ein kläffender Köter, sein Kern ein Straßenteufel. Faust findet Mefistofeles mit der Gruselstimme (Emir Tebatebai) und dem bedrohlich vorgeschobenen Riesenkinn auf Anhieb „abgefahren“ und hat für „Mefi aus der Höll“ gleich einen Wunsch parat: „irgendwas, was mich so richtig auf Touren bringt“.
Beim Touri-Streifzug durch die Favelas – Faust „will was Authentisches!“ – begegnen sie der aufgeweckten Margarida mit den Holzstrohhaaren, die keine Lust mehr hat, mit 14-Jährigen rumzumachen. Dann lieber mit so ’nem netten Gringo-Opi spazieren gehen. Beim ersten Kuss braucht es etwas, bis die Puppenmünder aufeinanderpassen, doch dann zittert das Pappmaché-Gretchen ganz ergriffen, und immer wieder rutscht ihr ein fröhliches „Ficken!“ zwischen die Plappersätze.
Fürs Kieksen, Gickern, Glucksen und ein paar tolle Lieder leiht ihr als Gaststar die wunderbare Song-Performerin Cora Frost ihre Stimme. Ihr Gretchen darf nicht nur als angeflirtetes Püppchen auftreten, sondern wird von Frost, kaum hat im imaginären Hotelbett die körperliche Vereinigung stattgefunden, leibhaftig verkörpert. Im Matrosenkleid mit Blondperücke gebiert sie unter massivem Stöhnen den kleinen Horst. Faust jedoch ist „noch nicht so weit, um für Kinder zu sorgen“, und schickt die beiden eiskalt wieder in die Favela-Kälte hinaus. Cora-Gretchen streut lamentierend Kunstschnee auf ihr Baby, steckt sich selbst in den Kerker und nimmt nicht nur den Tod ihres erfrorenen (und später auferstehenden) Kindes, sondern gleich alle Schuld der Welt auf sich. Vor Heinrich graut’s auch ihr, vornehmlich weil der „irgendwie nicht mehr so attraktiv“ wie früher ist. So bleibt ihm nur eins: Papa Faust sein. ANNE PETER
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