Melancholie reist mit

Alain de Botton hat ein Buch über die Kunst des Reisens geschrieben. Ein einfühlsames Buch über die Zweifel und die Lust beim Reisen

von BARBARA SCHÄFER

„Kunst des Reisens“ hat Alain de Botton sein Werk schlicht genannt, nichts mehr und nichts weniger beschreibt er darin schlüssig. Der 33-jährige Engländer, der ein unerschöpfliches Wissen hat, springt mühelos von Edmund Burke zu Hiob, von Humboldt zu Ruskin. Aber keine Angst: Der Leser darf von all dem wenig bis keine Ahnung haben. De Botton erklärt geduldig.

Er sieht im Londoner Winter eine Werbebroschüre der Tropen (und erinnert sich an ein Gemälde von William Hodge). Die Broschüre zeige, „wie leicht Leser mit Fotografien zu ködern waren, deren Macht jedem Begriff von freiem Willen Hohn sprach“. Aber Botton erhebt sich nicht darüber, er „beschloss, zur Insel Barbados zu reisen“.

Sein Reiseziel steht in seinen Gedanken vor ihm, Strand mit Palmen, blaues Meer, ein luxuriöses Hotel. So wird er es vorfinden und doch ganz anders. In seinen „vorauseilenden Erwartungen“ habe eine Lücke geklafft zwischen dem Flughafen und dem Hotel. Dann listet er ausführlich auf, wie er auch sonst mit langem Atem erzählt, was diese Lücke vor Ort füllt: eine Tankstelle, Reklametafeln, Kreisverkehr, ein Taxi, dessen Armaturenbrett mit Fellimitat im Leopardenmuster bezogen war. Will heißen: Die Welt besteht aus mehr Dingen, als der Mensch sich gemeinhin vorstellt.

Diese Erkenntnis ist nicht neu, aber de Botton gewinnt ihr neue Seiten ab. Diese etwa: Was vor allem auf der Trauminsel anders ist als alles, was er sich zu Hause vorgestellt hatte: „Ich hatte ja mich selbst auf die Insel mitgenommen.“ Mit diesem Umstand hat er – stellvertretend für alle Reisenden – zu kämpfen. Er entdeckt eine „unerwartete Kontinuität“ zwischen dem Melancholiker, der er zu Hause war, und der Person auf dieser Insel. Wo doch eitel Glück hätte herrschen sollen.

Mühelos vergleicht de Botton Großes mit Kleinem. Anschaulich schildert er eine Autobahnraststätte. Die Speisen sind pappig, die Tische besprenkelt mit Ketchup, aber de Botton entdeckt „etwas Poetisches“, er erinnert sich an andere Reisestationen von unterwegs – und an einen Schriftsteller: Baudelaire. Ohne Bildungshuberei beginnt er Baudelaire zu erklären und die schönsten Reiseaphorismen seines Werks zu zitieren. Das Pendant in der bildenden Kunst findet er in Amerika, bei Hoppers Gemälden der einsam Reisenden. (Ein Lob hier der bibliophilen Aufmachung des Buches. Die Gemälde sind abgebildet, zudem Fotos, die der Autor selbst beisteuerte.)

Als er nach Madrid kommt, überfällt ihn plötzlich totale Lustlosigkeit, er schleppt sich zu einer Sehenswürdigkeit, nur um sich zu fragen: „Was habe ich hier eigentlich zu schaffen?“ Humboldt, so de Botton, habe es einfacher gehabt. Wohin auch immer er gefahren war, er wollte etwas erforschen. Wer nur zum eigenen Vergnügen aufbricht, hat es schwerer. Alain de Botton scheint sie zu beherrschen, die Kunst des Reisens. Das Beste an dem Buch: Es ist so voll gestopft mit Anekdoten und Querverweisen, Volten und Wissenswertem, dass der Leser sich nicht einen Bruchteil davon merken kann. Und deshalb kann man es, sobald man auf der letzten Seite angelangt ist, sofort wieder von neuem lesen.

Alain de Botton: „Kunst des Reisens“. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2002, 19,90 €. ISBN 3-10-046318-3