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Verkleidetes Kind

Das Maxim Gorki Theater zeigt „Lilja 4-ever“, ein Jugendprostitutionsdrama nach dem gleichnamigen Film

Britta Hammelstein ist Lilja, ein Wirbelwind. Ein schlenkerbeiniges Energiebündel in zu großen Tennissocken. Eine zierliche Blitzaugenwüterin unterm dunklen Fransenpony. Im Studio des Maxim Gorki Theaters gibt sie als neues Ensemblemitglied jetzt ihr vielversprechendes Berlin-Debüt. „Lilja 4-ever“: Irgendwo in der exsowjetischen Provinz verlässt eine Mutter ihre Tochter für ein besseres Leben in Amerika. Das Mädchen prostituiert sich aus Geldnot und wird von einem kalkulierenden Charmeur mit dem Versprechen auf Arbeit nach Schweden geschleust. Dort wird Lilja vom Zuhälter in einer Wohnung eingesperrt und nächtelang von Freier zu Freier gefahren. Als Ausweg bleibt ihr der Sprung von der Autobahnbrücke.

Fester Unschuldsblick

Diesen von einer Zeitungsnotiz inspirierten Stoff nach Lukas Moodyssons Film von 2002 inszeniert Felicitas Brucker in schnell hintereinandergeschnittenen Szenen als Kinder-Passionsgeschichte, in der Hammelsteins Lilja den himmelschreienden Umständen mit festem Blick die Unschuld abtrotzt.

Wo die Film-Lilja ihr „Lilja 4-ever“ in die Holzbank ritzt, malt sie hier ihren Namen als Selbstbehauptung mit Kreide an die Wand des bühnenlangen Thekenkastens, dessen Vorderfront sich zu niedrigen Boxen öffnen lässt, deren Ausstattung den verschiedenen Schauplätzen entspricht. Selbst wenn sie sich weißen Puder aufs Gesicht kippt, einen Lidschattenstreifen über die Augen schmiert und achtlos das Rot auf die Lippen malt, ist diese Lilja vor allem eins: ein verkleidetes Kind. Erstes Abhotten in der Disco zu „Big in Japan“ mit Freundin Natascha.

Die lässt sich abschleppen, schiebt das Geldverdienen mit Sex jedoch Lilja in die Schuhe, und schon ist der Stempel fertig. Ulrich Anschütz gibt ebenso den Disco-Abschlepper, Nataschas „Nutte“ schimpfenden Vater, dann auch den Lehrer und den Zuhälter Vitek – Sinnbild einer Doppelmoral. Max Simonischek verkörpert gleichfalls Varianten des lustkonsumistischen Männertums, bloß in jung: den Verführer Andrej, später einen spießigen Freier-Nerd.

Triebdumpfe Männer

Alle Männer sind Schweine? Nicht ganz. Mit dem jüngeren Nachbarsjungen Valodja kann Lilja nicht nur Schnüffelexzesse feiern, sondern auch eine ungelenk-zarte Britney-Spears-Nummer hinlegen. Dieser Valodja wird zu Anfang von Simonischek und dem 16-jährigen Arthur Romanowski im Parallelspiel gedoppelt – der Mann und der Engel: zwei Wesen, die für Brucker nicht zusammengehen. Der kleine Valodja bringt sich nach Liljas Abreise mit Tabletten um, fort lebt bloß die triebdumpfe Männlichkeit.

Als misstraue sie diesem Schablonenkonzept selbst und wolle den Schuldballast dann doch nicht ganz so einseitig verteilen, sondern das Ausbeutersein ansatzweise psychologisch nachvollziehbar machen, sprengselt Felicitas Brucker Passagen aus Dostojewskis Buch „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ ein: „Man hatte mich erniedrigt, so wollte auch ich erniedrigen …“ Das geht nicht auf. Auch sonst spricht dieser Abend überflüssigerweise einiges aus, was im Film bloß angedeutet wird, und bekommt zum Ende hin dann durch die distanzierenden Beschreibungspassagen doch einige Längen. ANNE PETER

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