Weggewünschte Kinder


„Ich dachte nur, ich darf nicht wieder in meine Wohnung.“ Und dann war sie doch wieder da

aus Hildesheim HEIKE HAARHOFF

Ein Polizist in Zivil folgt einer jungen Frau in ihre Wohnung. Schmaler Flur, winziges Zimmer, alles sehr sauber und aufgeräumt. Auf dem Sofa sind liebevoll Kissen im schwarzweißen Kuhfellmuster angeordnet, in der Küche hängen die passenden Kuh-Topflappen. Der Polizist: „Und dann sind Sie mit dem Kind nach Hause gekommen.“ Die Frau, schluchzend, nickt. Der Polizist: „Und dann?“ Die Frau, stärker schluchzend: „Habe ich das Kind hier aufs Sofa gelegt, habe ein Kissen genommen …“ Der Polizist: „Welches?“ Die Frau, kaum noch verständlich: „Ich weiß es nicht mehr.“

Die Kamera wackelt, es gibt keine Schnitte.

„Wie lange haben Sie das Kissen auf das Kind gedrückt?“

„Bis es sich nicht mehr gewehrt hat, bis ich das Gefühl hatte, jetzt ist es tot.“

„Und dann?“

„Hab ich mir die Müllsäcke geholt, hab das Kind reingetan und zugemacht, dann hab ich es in einen größeren Müllsack gemacht und noch andere Sachen reingetan …“

„Und beim zweiten Kind?“

„Habe ich wieder ein Kissen genommen …“

Dann ist der Film zu Ende, und alles ist gar nicht vorbei.

Im Landgericht Hildesheim räumen Saaldiener die Monitore und das Polizeivideo weg, das die Ortsbegehung in ihrer Hildesheimer Wohnung kurz nach der Festnahme im September 2002 zeigt. Jetzt, fast fünf Monate später, dient es der Ersten Großen Strafkammer als Zeugnis: für den Gemüts- und Geisteszustand von Nicole D., unmittelbar nachdem ihre Taten herauskamen.

Nicole D. schaut weg. Von gegenüber beobachtet Staatsanwalt Horst Müller sie. Laut seiner Anklage hat Nicole D., 28 Jahre, Studentin im Fach Sozialwesen in Hildesheim, ihre beiden Babys Linus und Kevin im September 2001 und im August 2002 zwei beziehungsweise einen Tag nach ihrer Geburt ermordet.

„Niedere Beweggründe“ hätten sie dazu gebracht, die Neugeborenen erst mit einem Kissen zu ersticken und ein paar Tage später im Hausmüll zu entsorgen: Sie habe ihr normales Leben weiterführen wollen. Sie habe nicht als Lügnerin dastehen wollen. Denn ihrem Freund und anderen Bekannten habe sie ihre Schwangerschaften verheimlicht. Ihren wachsenden Bauch habe sie mit einem frei erfundenen Hirntumor erklärt, der mit Medikamenten behandelt werde, die den Bauch aufblähten.

Eine monströse Lüge, eine monströse Tat? Kaltblütigkeit, Kausalzusammenhang und Kerker? Nicole D. hat keine Erklärungen.

Blass und Fingernägel kauend sitzt sie da, die rotblond gefärbten Haare zum Pferdeschwanz gebunden, die Stimme zittrig. Sie bestreitet nichts, sie ist willens, dem Gericht Auskunft zu geben. Aber wie, wenn sie sich selbst nicht begreift? „Das Schlimme ist, dass ich diese Geschichte aufgebaut habe, und jetzt überhaupt an die Wahrheit heranzukommen nach zwei Jahren, wo ich versucht habe, das alles zu verdrängen.“

Richter Ulrich Pohl wird ungeduldig. Wie er auch fragt – freundlich, drohend, gutmütig, zynisch, väterlich, ungehalten –, er wird nicht schlau aus Nicole D.: Warum sie sich isolierte, warum sie sich niemandem anvertraute, warum sie wartete, bis alles zu spät war, und vor allem: warum sie bis heute nicht sagen kann, wann und weshalb sie sich entschloss, ihre Kinder zu töten, zweimal in Folge, im Abstand von nur einem Jahr, nach demselben Muster: verheimlichte Schwangerschaft, Entbindung im Krankenhaus, Mutterstolz, Glücksgefühle, und dann, kaum zu Hause, das Kissen.

Pohl ist Anfang 50, er hat selbst drei Kinder, und wenn es da eine Notlage gäbe, „da würden die doch zu mir kommen“. Ihm jedenfalls leuchtet das alles nicht ein. An diesem Punkt erträgt die Angeklagte die Frage nach dem Warum nicht mehr: „Meinen Sie etwa, mir leuchtet es ein? Ich frage mich immer, wieso ich meinen Eltern nicht vertraut habe, meinem Freund nicht, warum ich mein ganz normales Leben, alles, was ich hatte, weggeschmissen habe.“

Ihr ganz normales Leben: Kindheit im Reihenhaus in Holzminden, Mutter Arzthelferin, Vater Polizist, ein jüngerer Bruder. Nicole D. ist eine mittelmäßige Schülerin, die zwölfte Klasse wiederholt sie, 1995 dann Abi, Schnitt 3,6.

Schon als Schülerin jobbt sie im Altenheim und als Babysitterin. Der Richter: „Also das mit den Kindern, das konnten Sie, ja?“ Nicole D. weint.

Sie will Sozialpädagogik studieren, bekommt keinen Platz, macht 18 Monate Praktika im Altenheim und: in einer Kindertagesstätte. Ab 1997 dann doch Sozialpädagogik in Hildesheim, ab 1999 Sozialwesen, jedes zweite Wochenende bei den Eltern. Die finanzieren ihre Wohnung in Hildesheim: „Wir waren viel im Kino, in Konzerten, haben uns zu Hause getroffen und geklönt“, erzählt ihre beste Freundin Sonja R. dem Gericht. „Nicole konnte immer gut zuhören, aber es ist schwer bei ihr zu merken, wann es ihr selbst schlecht geht.“

Griff deshalb niemand ein?

Computermesse Cebit, Hannover 1999, ein Hotel im nahen Ahrbergen braucht Aushilfen. Nicole D. sucht einen Job. „Superfleißig, zuverlässig, immer freundlich“, sagt die Betreiberin. Mit Beginn der Expo im Sommer 2000 lässt Nicole D. sich vom Studium beurlauben, hängt sich ganz in den Hoteljob.

Es gibt die Arbeit, und es gibt Georgie. Georgie aus Nordafrika. Der jobbt auf der Expo, dafür gibt es Zeugen, näher lernt ihn keiner kennen. Georgie. Den sie geliebt hat und der so eifersüchtig war, bis sie nur noch wegwollte von ihm, im Dezember 2000.

Sie wischt sich die Tränen nicht ab.

„Ich weiß, wie schwer Ihnen das fällt, ich habe schon einige vergewaltigte Frauen vernommen“, sagt der Richter. „Wenn er so ein Scheißkerl war, warum haben Sie ihn nicht angezeigt?“ – „Ich wollte nichts mehr damit zu tun haben.“

Auch nicht mit der Schwangerschaft. Die habe sie erst bemerkt, „als sich das Kind bewegt hat“, im April oder Mai 2001. „Ich dachte, das darf doch nicht wahr sein!“ Wo sie doch wieder glücklich ist. Mit Wolfgang K., dem Hotelleiter, er ist zu dieser Zeit 51, zwei Jahre älter als Nicole D.s Vater.

„Nicole konnte immer gut zuhören. Aber es ist schwer bei ihr zu merken, wann es ihr selbst schlecht geht“

„Ich wollte es einfach nicht wahrhaben!“ Wo er ihr doch mal, halb im Scherz, gesagt hat, wenn du schwanger wirst, reiß ich dir den Kopf ab. Wo er doch selbst Probleme mit dem Hotel hatte. Und wo sie doch längst „die Geschichte angefangen hatte, dass irgendwas mit meinem Kopf nicht stimmt“, eine Lügengeschichte, „die sich irgendwann verselbstständigt hat“.

„Warum erfahren wir das erst jetzt?“ Das ist Richter Pohl. Hellwach, alarmiert. In allen Vernehmungsprotokollen ist nachzulesen, Nicole D. habe die Lüge vom Tumor erst angefangen, als die Schwangerschaft unübersehbar wurde. „Das stimmt nicht“, sagt sie, „das war schon vorher und wegen Georgie, aber das wollte doch keiner wissen bei der Polizei. Ich hatte das Gefühl, denen dauert das alles zu lange.“

Und dann stehen im Protokoll Sätze wie: „Kurz vor der Geburt ist in mir der Gedanke herangereift, dass ich das Kind umbringen werde.“ Sätze, die Nicole D. selbstständig nicht formuliert, das ist nach zwei, drei Prozessstunden klar. Aber eben auch Sätze, die sie unterschrieben hat. So wie sie jetzt abnickt, dass diese Sätze damals in sie „hineingefragt“ wurden, wenn der Richter ihr das Wort „hineinfragen“ vorschlägt, obwohl sie auch das vielleicht nicht so meint. Was ist wahr, was real? „Ich muss Dinge erklären, für die ich selbst keine Erklärung habe.“ Das führt dann dazu, dass Nicole D. nicht etwa wegen Totschlags, sondern wegen Mordes angeklagt ist.

Dazu fähig hält sie keiner der Zeugen. Am wenigsten ihr Freund, der Hotelleiter. Klein, mit Stoppelbart und schwarz gefärbten Haaren sitzt er da. Den Altersunterschied hatte er als mögliches gesellschaftliches Problem erkannt, darauf schob er auch, dass seine Freundin ihm nie ihre Eltern vorstellen wollte. Er war so beschäftigt im Hotel, es ging ihm gut so. „Nicole war ruhig, sanft, hat nie von sich aus Ansprüche gestellt. Das fand ich fantastisch an Nicole.“

Fantastisch war wohl auch, dass sie sich um ihren Hirntumor selbst kümmern wollte. „Sie sagte: Ich schaff das allein. Das habe ich akzeptiert.“ Er akzeptierte, dass der Bauch erst medikamentenbedingt wuchs und eines Tages wieder weg war. Da hatte sie ihm vorher gesagt, sie müsse ein paar Tage in die Klinik, „um den Bauch zu entlasten“. Und als im Jahr darauf der Bauch wieder dicker wurde, da akzeptierte er, der selbst zwei erwachsene Kinder hat, erneut, dass nicht sein Kind da in ihr heranwuchs, sondern der Tumor in ihrem Kopf wieder größer geworden sein musste. Er akzeptierte auch die „Funkstille“ während der Tage, die Nicole D. angeblich bei der Tumorbehandlung verbrachte und tatsächlich im Kreißsaal, allein mit „einem Baby von dem Mann, den ich liebe“, einem Baby, „das nicht enden durfte wie beim ersten Mal“, und sie, verzweifelt und „auf Wolke sieben zugleich“, unfähig, einen Gedanken zu fassen. „Ich dachte nur, ich darf nicht wieder in meine Wohnung.“ Und dann war sie doch wieder da, war da wieder das Kissen und alles andere „ein Reflex“.

Wolfgang K. „fällt es erst da wie Schuppen von den Augen“, als es an Nicole D.s 28. Geburtstag im September 2002, wenige Wochen nach dem Tod von Kevin, zu einem Telefongespräch zwischen ihm und ihrer Mutter kommt.

„Er fragte, ob ich nicht kommen wolle, heute habe doch die zweite Chemotherapie angefangen.“ Zum ersten Mal hörte Angelika D. von dem Hirntumor. „Ich dachte, mein Gott, wie lange hat sie noch zu leben?“

Sie hat sich nicht täuschen lassen, die Mutter. Sie hatte Zweifel: als sie ihrer Tochter auf den Kopf zusagt, du bist schwanger, und die alles auf Verdauungsprobleme schiebt. Als sie den ersten Brief vom Standesamt mit der Geburtsbenachrichtigung öffnet – „wir hatten eine Abmachung, dass wir offizielle Briefe aufmachen“ – und die Tochter etwas von einer geklauten Krankenversicherungskarte erzählt.

Aber Angelika D.s Vertrauen zur Tochter ist grenzenlos. Als das zweite Schreiben vom Standesamt kommt, die Tochter gar nicht mehr reagiert auf Anrufe und Briefe, machen die Eltern sich ihren Reim: das Kind wohl zur Adoption weggegeben. Nur das Warum, das erschließt sich ihnen nie, auch nicht, als Nicole D. die Geburten zugibt, von illegaler Weggabe berichtet und die Eltern sie von Jugendamt zu Pro Familia zur Polizei schleppen, in der Hoffnung, man könne die Kinder finden. „Wir konnten uns nicht vorstellen, warum sie es vor uns versteckt hält. Es war doch ihr Kind.“

Es war die Polizei, die Nicole D. irgendwann nicht mehr glaubte.