Der Absturz der Oligarchen

Unter allen Ländern trifft die Finanzkrise Russland mit am schwersten. Doch noch tut der Kreml so, als wäre alles in bester Ordnung

MOSKAU taz ■ Moskaus politische Elite hat eine große Vorliebe für Rekorde. Diesmal brilliert Moskau mit einem negativen Rekord. 600 Milliarden Dollar Aktienkapital vernichtete die Finanzkrise in Russland. Seit Mai 2008, als die russische Börse ihren Höchststand erreichte, ist der Aktienindex Micex um mehr als 60 Prozent gefallen. Laut einer Dow-Jones-Rangliste von 61 Indizes ist Russland weltweit am stärksten von der Finanzkrise betroffen.

Das Vermögen der 25 reichsten russischen Oligarchen schmolz in der Börsenbaisse um mehr als ein Drittel. Seit Mai wurden laut der Nachrichtenagentur Bloomberg 238 Milliarden Dollar vernichtet. Schon prognostiziert die Regierung für 2009 statt der erwarteten 6,7 nur noch 5,7 Prozent Wachstum. Das würde eine Trendwende bedeuten in einem Land, dessen Wirtschaft seit 2000 kontinuierlich mehr als 7 Prozent zulegte. 150 Milliarden Dollar pumpte der Staat als Stützungsmaßnahme in 28 Bankhäuser und russische Unternehmen, die ihre Auslandsschulden nicht bedienen konnten. Die Erleichterung war nur kurzfristig. Nach wie vor zittern Investoren vor den Auswirkungen auf die Sektoren der realen Wirtschaft.

Am Wochenende kündigte Finanzminister Alexei Kudrin an, aus dem nationalen Wohlstands- und Rentenfonds 5 Milliarden Euro in Aktien und Obligationen russischer Unternehmen als langfristige Investitionen anzulegen. Mit einem Stabilitätsfonds von 500 Milliarden Dollar verfügt Russland zudem über die drittgrößten Währungsreserven der Welt. Die Präsenz des Staates auf dem Markt würde auf die Wirtschaft einen Gesundungseffekt ausüben, meinte Kudrin. Sieht sich der Staat zu weiteren Stützungsmaßnahmen gezwungen und trifft dies mit einem weiteren Sinken der Preise für Öl und Buntmetalle zusammen, dann sind hingegen auch 500 Milliarden Dollar kein unerschöpfliches Polster mehr.

Angst um ihre Liquidität haben auch die großen Energiekonzerne. Gazprom, Lukoil, Rosneft und TNK-BP baten die Regierung um frisches Geld. Ein Teil ist für die Tilgung von Krediten vorgesehen, die wegen des unterentwickelten russischen Bankensektors meist von westlichen Geldgebern stammen. Der andere Teil dient der Aufrechterhaltung der Produktionskapazitäten. Die Krise könnte zur Folge haben, dass auch die Förderkapazitäten sinken. Die vier Energieunternehmen produzieren 70 Prozent des russischen Öls und 91 Prozent des Gases. Lukoil Chef Wagit Alekperow sieht bei einem Ölpreis von weniger als 105 Dollar pro Fass für sein Unternehmen keine Möglichkeit mehr, die Produktion anzukurbeln.

Russlands Oligarchen und Staatskonzerne sind bis über beide Ohren verschuldet. Mit ausländischen Krediten kauften sie in den letzten Jahren weltweit auf, was ihnen in die Finger kam. Das rächt sich jetzt. Der vor kurzem noch als reichster Russe gehandelte Oleg Deripaska gab letzte Woche seine 10-Prozent-Beteiligung am größten europäischen Bauunternehmen Hochtief ab. Die auf Kredit finanzierte Beteiligung am kanadischen Autozulieferer Magna holte sich die Bank BNP Paribas bereits zurück.

Von den Turbulenzen erfahren die Russen nur wenig. Die Wörter „Finanzkrise“ und „Kollaps“ sind nach Zeitungsberichten in den gleichgeschalteten elektronischen Medien auf den Index gesetzt worden. Aus „Wertfverfall“ wird so eine „Wertminderung“. In Umfragen bewerteten die Bürger die Wirtschaftssituation Ende September besser als noch im Juli. Das dürfte sich ändern. Auch russische Unternehmen schrauben die Produktion zurück und kündigten Entlassungen an. KLAUS-HELGE DONATH