Furiose Verweigerungen

Bloß nicht vereinnahmen lassen: Die jüngeren türkischen Schriftsteller durchkreuzen Kategorien wie traditionell und modern und durchmischen das Politische mit dem Privaten. Insofern ist der Länderschwerpunkt der Buchmesse perfekt terminiert – literarisch gibt es in der Türkei viel zu entdecken, längst auch jenseits von Orhan Pamuk

VON TOBIAS VÖLKER

Aufbruchsstimmung. Die junge türkische Literatur war nie lebendiger. Der Länderschwerpunkt Türkei bei der diesjährigen Buchmesse kommt also gerade zur rechten Zeit.

Dabei sind die Vielfalt und Experimentierfreudigkeit, die in vielen Übersetzungen aus dem Türkischen sichtbar werden, das Ergebnis eines längeren Erneuerungsprozesses. Seine Anfänge hatte er ausgerechnet in den 80er-Jahren – in jener bleiernen Zeit nach dem Militärputsch, der zahllose Intellektuelle ins Exil trieb und eine Verfassung hinterließ, die darauf angelegt war, freie Meinungsäußerungen schon im Keim zu ersticken. Es gehört zu den Paradoxien der jüngeren türkischen Geschichte, dass einerseits die politischen Strukturen, die den Putsch ermöglichten, bis heute fortbestehen, andererseits jedoch die Gesellschaft in den vergangenen 25 Jahren einen rasanten Wandel erlebte. Ein breites Spektrum neuartiger sozialer Identitäten und kultureller Ausdrucksformen entstand, die weder traditionell noch modern waren, sondern diese Kategorien durchkreuzten.

Es ist nicht verwunderlich, dass diese Umwälzungen auch der Literatur neue Spielräume eröffneten. War es für einen Schriftsteller in den 60er- und 70er-Jahren selbstverständlich, sein Schaffen in den Dienst der Revolution zu stellen, so meldete sich nach 1980 eine Generation zu Wort, die sich durch spielerischere Ansätze auszeichnete. Themen, die zuvor als gesellschaftlich irrelevant abgelehnt wurden, rückten nun ins Blickfeld: die Beschäftigung mit Geschlechterrollen, mit Sexualität, mit der geografischen, ethnischen, religiösen und sprachlichen Herkunft. Man bezog weiterhin politisch Stellung, verweigerte sich aber zugleich jeglicher ideologischer Vereinnahmung.

Murathan Mungan, neben Orhan Pamuk der vielleicht wichtigste Vertreter der Postachtzigergeneration, sagt hierzu: „Wenn ich mich zur Kurdenpolitik äußere – und ich habe dies oft getan –, dann als Mensch mit Kopf und Herz wie jeder andere. Aber als Schriftsteller möchte ich an meinen Werken gemessen und nicht als Aktivist missverstanden werden.“ Mungan weiß, wovon er spricht, schließlich wird er in Interviews ständig zu seiner kurdisch-arabischen Herkunft befragt oder dazu, wie es ist, als offen schwuler Mann in der Türkei zu leben.

In seinen Texten gehen Persönliches und Gesellschaftskritisches, Archaisches und Psychologisches nahtlos ineinander über, er entführt den Leser mal – wie in dem Erzählband „Palast des Ostens“ – in die Gebirgs- und Steppenlandschaften der Südosttürkei, wo er aufgewachsen ist, dann wieder ins Nachtleben Istanbuls. Von Haus aus ist Mungan Lyriker, bei kaum einem Autor klingt die türkische Sprache so fein und elegant wie bei ihm. Die Novelle „Tschador“, vor kurzem bei Blumenbar erschienen, vermittelt dank der hervorragenden Übersetzung von Gerhard Meier ein gutes Bild davon.

Was als Erzählung über einen Mann beginnt, der nach langem Exil in seine von Krieg und der Schreckensherrschaft eines totalitären, islamistischen Regimes gezeichnete Heimat zurückkehrt, wird zunehmend zu einer verstörenden Reflexion darüber, wie ein Mensch zusammen mit seinen Erinnerungen auch seine Hoffnungen und zuletzt sich selbst verliert. So mischt sich, typisch für die Postachtziger, das Politische mit dem Privaten: Die Auswirkungen von religiösem Fanatismus auf das Leben der Menschen wird zur Folie für die Geschichte einer persönlichen Sinnsuche.

Es ist bezeichnend, dass ein so erfolgreicher Autor wie Mungan, der in seiner Heimat sechsstellige Auflagenzahlen erreicht, hierzulande erst mit zwanzigjähriger Verzögerung wahrgenommen wird. Von einigen Ausnahmen wie Orhan Pamuk abgesehen, blieb die Vermittlung türkischer Literatur lange Zeit einigen Kleinverlagen wie Dagyeli oder dem Einfraubetrieb Literaturca der umtriebigen Turkologin Beatrix Caner vorbehalten, die Elif Shafak auf Deutsch brachte, bevor diese dann groß bei Eichborn rauskam.

Tatsächlich sind erst in den vergangenen Jahren auch die großen Publikumsverlage in Deutschland auf den Reiz – und das Potenzial – der türkischen Gegenwartsliteratur aufmerksam geworden. Wie spannend es sein kann, die „neuen Stimmen aus der Türkei“ miteinander in Beziehung zu setzen und sie zudem in ihrem literaturhistorischen Kontext zu präsentieren, führt derzeit der Unionsverlag mit der Türkischen Bibliothek vor. Die 20 Bände der Edition, alle mit Nachworten von namhaften Wissenschaftlern versehen, schlagen die Brücke von der Frühzeit der Republik bis heute und lassen so Entwicklungslinien deutlich werden. Im aktuellen Herbstprogramm beispielsweise steht der junge Autor Murat Uyurkulak neben Adalet Agaoglu, die als Begründerin der modernen türkischen Literatur gilt, sowie neben Ahmet Hamdi Tanpinars Roman „Seelenfrieden“ aus dem Jahre 1949, auf den sich viele zeitgenössische Schriftsteller – oft im Tonfall leidenschaftlicher Bewunderung – beziehen.

Tanpinars schmalem Oeuvre – zusätzlich zu „Seelenfrieden“ ist gerade bei Hanser sein zweites Hauptwerk, der satirische Roman „Das Uhrenstellinstitut“, erschienen – kommt ohne Zweifel eine Sonderstellung innerhalb der türkischen Literaturgeschichte zu. Zu einer Zeit, als sich die meisten Schriftsteller ganz der Durchsetzung des kemalistischen Reformprojekt verschrieben hatten, warnte dieser Autor vor den Folgen einer falsch verstandenen Modernisierung und erinnerte angesichts der monokulturellen Staatsdoktrin an die Traditionen des osmanischen Vielvölkerreichs. In „Seelenfrieden“ entwirft er das Porträt eines Menschen, der sich wehmütig der Erinnerung an die große, unwiederbringlich verlorene Vergangenheit hingibt – und damit selbst dem Untergang geweiht ist. Diese Verweigerung, sich vereinnahmen zu lassen, die sich in einer unzeitgemäßen, nur der Schönheit verpflichteten Melancholie ausdrückt, macht das Faszinosum aus, welches das Buch für junge Literaten von heute darstellt. Orhan Pamuk, der in Tanpinar einen Seelenverwandten sieht und ihm in seinen Jugenderinnerungen ein literarisches Denkmal gesetzt hat, bezeichnet „Seelenfrieden“ als den „bedeutendsten je über Istanbul geschriebenen Roman“. Und Istanbul steht dabei für alles, was Ankara nicht ist: mondän, weltoffen, multikulturell.

„Ankara? Was soll ich denn in Ankara? (…) He, Ankara, bei dir gibt es nur Unterdrückung, nichts als Unterdrückung!“, heißt es in Murat Uyurkulaks Roman „Zorn“. Der Autor, der zur Zeit des Putsches 1980 acht Jahre alt war, beschwört darin die Welt der linksradikalen Szene der 70er-Jahre herauf, um für sich herauszufinden, „von wem du abstammst, woher du kommst und wohin du gehst“. Seine Revolutionäre sind allesamt erbärmliche Säufer, zugleich aber unverwüstliche Träumer und wahnhafte Visionäre. Furios gestaltet er die Gefühle von Ohnmacht und Hass auf den Staat, die bis heute nachhallen, sowie den perfiden Repressionsapparat und die Willkür von Geheimpolizei und Militär, die nach Belieben ganze Stadtviertel dem Erdboden gleichmachen. Uyurkulak gehört zur zweiten Generation der „Post-1980er-Literatur“, die gerade den Aufstand probt, während Pamuk und Mungan, inzwischen etabliert, sich mit der Aura eines über den Dingen stehenden Homme de Lettre umgeben.

Constanze Letsch stellt in ihrer Anthologie „Unser Istanbul“ einige dieser jungen Autoren und Autorinnen vor: schräge, provozierende Texte, experimentell, oft ein bisschen daneben, aber allemal lesenswert. Von Sebnem Isigüzel, die ebenfalls in dieser Sammlung vertreten ist, liegt außerdem der Roman „Am Rand“ vor – ein äußerst kantiger, geradezu schroffer Text, der mit seinen beiden Heldinnen wahrlich nicht zimperlich umgeht. Er handelt von einer auf der Müllhalde wohnenden Obdachlosen und einer Psychopathin, die vom Gespenst ihrer tyrannischen Mutter verfolgt wird. Oft will diese Autorin zu clever sein und nimmt den Schilderungen durch Brüche und Ironisierungen die Wucht. Manchmal aber beginnt Isigüzels Stil, der dem magischen Realismus verpflichtet ist, vor Zauber zu glitzern.

Adalet Agaoglu: „Sich hinlegen und sterben“. Unionsverlag, Zürich 2008, 512 Seiten, 22,90 €ĽSebnem Isigüzel: „Am Rand“. Berlinverlag, Berlin 2008, 431 Seiten, 19,90 €ĽConstanze Letsch (Hg.): „Unser Istanbul“. Berlinverlag, Berlin 2008, 217 Seiten, 8,90 €ĽMurathan Mungan: „Palast des Ostens“. Unionsverlag, Zürich 2008, 256 Seiten, 9,90 Euro; ders.: „Tschador“. Blumenbar, München 2008, 128 Seiten, 15,90 €