Qual oder egal?

Gegner des betäubungslosen Schächtens kritisieren, dass die Tiere dabei unnötig leiden. Muslime halten das Verfahren für tierfreundlich

GÖTTINGEN taz ■ Handelt es sich beim betäubungslosen Schächten um eine „grausame Praxis“, wie etwa der Karlsruher Veterinär Dirk Stegen meint, oder um „praktizierten Tierschutz“, wie es die muslimischen Verbände sehen?

Tierschützer argumentieren, dass das Tier, wenn es nicht betäubt wird, seinen eigenen Tod bei vollem Bewusstsein miterlebt, weil es erst mehrere Sekunden oder gar Minuten nach dem Kehlenschnitt ohnmächtig wird. Erstickungsanfälle und Panik seien die Folge. Der deutsche Tierschutzbund forderte die in Deutschland lebenden Muslime deshalb auf, beim diesjährigen Opferfest auf die betäubungslose Schächtung zu verzichten: „Wenn gläubige Moslems dem Gebot des Islam gehorchen, Tiere möglichst schonend zu töten, dann müssen sie die Elektrobetäubung anwenden“, erklärte der Vorsitzende Wolfgang Apel vergangene Woche.

Muslime halten dagegen, dass die islamischen Vorschriften zum Schächten äußerst tierfreundlich seien, ja sogar artgerechter als die Bestimmungen der industriellen Schlachtung. So dürfe das Tier beispielsweise das Schlachtwerkzeug zuvor nicht zu Gesicht bekommen und auch den Tod anderer Tiere nicht mit ansehen. Ihm müssen Futter und Wasser angeboten werden, und es soll vor der Schächtung beruhigt werden. Muslime, die das betäubungslose Schächten befürworten, gehen außerdem davon aus, dass der sachkundig durchgeführte Kehlenschnitt zu einem so schnellen Verlust des Bewusstseins führt, dass das Tier keinesfalls darunter leide. Tatsächlich gibt es bis heute keine allgemein anerkannte veterinärmedizinische Studie, die zu einem anderen Ergebnis kommt. „Die Annahme, das Tier werde beim Schächten gequält, basiert auf keinerlei wissenschaftlich nachweisbaren Argumenten“, befand der Präsident der schweizerischen Israelitischen Kultusgemeinde, Alfred Donath in der Neuen Zürcher Zeitung, als er sich 2001 gegen entsprechende Vorwürfe von Tierschützern wehrte. Damals wurde in der Schweiz diskutiert, ob Juden das betäubungslose Schächten gestattet werden sollte.

Ein oft vernachlässigter Gesichtspunkt ist indessen, dass der Koran sich zur Frage der Betäubung nicht eindeutig äußert. Dort wird in Sure 5, Vers 3 lediglich vorgeschrieben, dass die Tiere geschächtet werden müssen – und das bedeutet: ausbluten. Denn im Islam besteht ein Bluttabu. Viele Muslime wollen unbedingt ohne Betäubung schächten, weil sie glauben, dass das Tier nur dann vollständig ausblutet – eine Annahme, der Veterinäre wie Dirk Stegen vehement widersprechen, die sich aber hartnäckig hält.

Es gibt auch ein religiöses Argument gegen die Betäubung: Muslimen ist der Verzehr von Verendetem, also nicht Geschächtetem, ausdrücklich untersagt. Wird ein Tier beim Betäuben versehentlich getötet, ist es damit ungenießbar, ja sogar verboten. Diese bei veralteten Betäubungsmethoden tatsächlich nicht unbegründete Angst schwingt bei vielen Muslimen bis heute mit.

YASSIN MUSHARBASH