Variationen der Einsamkeit

Mit „Autumn Ball“, dem düsteren Spielfilm von Regisseur Veiko Ounpuu, eröffnet heute das Baltic Film Festival Berlin

Ein Kaurismäki-Film nimmt sich im Vergleich dazu wie leichtfüßiger Komödiantenstadel aus

Schnaps, Zigaretten und Verzweiflung. Szenen aus einer postsowjetischen Plattenbausiedlung am Rande von Tallinn, Estland. In den knapp hundertzwanzig Minuten des Films „Autumn Ball“ gehen derart viele Liebesbeziehungen in die Brüche, werden derart viele Lebensträume in die Tonne gekickt und Hoffnungen zerstört, dass sogar ein Kaurismäki-Film sich im Vergleich dazu wie leichtfüßiger Komödiantenstadel ausnimmt.

Der Autor Mati (Rain Tolk) verbringt seine Tage im alkoholisierten Dämmerzustand, seitdem seine Frau ihn für einen seiner Freunde verlassen hat. Zu Beginn des Films will er erst sie umbringen, dann sich selbst. Beides misslingt. Auch der alte Friseur Kaski (Sulevi Peltola) führt ein einsames Leben zwischen Haareschneiden und Vor-dem-Radio-Sitzen. Als er sich mit einem kleinen Mädchen aus der Siedlung anfreundet, beschimpft ihn dessen Mutter als Kinderschänder. Die Mutter wiederum sitzt den ganzen Tag vor dem Fernseher und schmachtet Richard Chamberlain in „Die Dornenvögel“ an, während ihr Exmann, ein gewalttätiger Alkoholiker, sowohl sie als auch ihre Tochter verfolgt. Und der Architekt Maurer (Juhan Ulfsak) denkt bei seiner Arbeit zwar an das Wohl anderer, vergisst darüber jedoch seine eigene Frau, die sich daraufhin dem Garderobier Theo (Taavi Eelmaa) zuwendet, der gerne ein Schriftsteller wäre.

„Autumn Ball“ nach dem Kultbuch „Herbstball“ des estnischen Schriftstellers Mati Unt ist ein episodisch angelegter Film, in dessen Mittelpunkt Variationen von Einsamkeit stehen: Einsamkeit durch fehlenden sozialen Status oder durch erlittene Verletzungen. Hinter den von Abgasen geschwärzten Wänden der Plattenbauten wohnen alle zusammen und jeder getrennt von den anderen. So weit, so traurig. Zugleich bedient der Film in Fotografie und Setting ein konsequent stilisiertes Setting: die Farbpalette ist reduziert, aber klar, die Kostüme und Kulissen könnten aus einem Retro-Chic-Katalog stammen. So versucht Regisseur Veiko Ounpuu eine Kombination aus sozialrealistischem und lokalem Bezug in Gesichtern und Gestus einerseits und international abgesicherter Filmsprache andererseits.

Das geht nicht immer zusammen. Während etwa Mati seine Frau, die im Begriff ist, ihn zu verlassen, im stummen Kampf beinahe zu Tode würgt, hängt im Hintergrund prominent ein John-Cassavetes-Plakat. Weiter geht es mit Anspielungen auf Antonioni, Godard und andere kanonische Arthouse-Granden.

Solche cineastischen Referenzspielchen gefallen (manchen) Kritikern und lenken auf Filmfestivals die Aufmerksamkeit auf eine unterschätzte Filmlandschaft, nimmt den in „Autumn Ball“ erzählten Tragödien und Schicksalsschlägen allerdings wieder einiges von ihrer Wucht: In derart stylischer und selbstreflektierter Umgebung ist das Leiden der Figuren gleichsam entkörperlicht, wie in Watte aufgefangen.

„Autumn Ball“ ist der Eröffnungsfilm des Baltic Film Festival Berlin, das ab morgen bis zum 22. Oktober im Babylon Mitte stattfindet und das über zwanzig Spiel-, Dokumentar- und Animationsfilme aus Estland, Lettland und Litauen zur Aufführung bringt. DIETMAR KAMMERER

Weitere Infos unter www.balticfilmfestivalberlin.net.