Haltung bewahren!

Understatement, Overstatement: Pop und Chanson leben von der Selbstdistanzierung, nur Schlager sind hoffnungslos authentisch

von REINHARD KRAUSE

Geht es um Gattungen in der Unterhaltungsmusik, ist stets klar, wer Sieger, wer Besiegter ist: Chanson schlägt mit Mühe den Schlager, aber Pop schlägt sie alle. Schlager gelten als dümmlich und unraffiniert, Chansons als angestrengt und altbacken. Pop jedoch ist immer cool.

Komisch eigentlich, dass die Genregrenzen so wenig durchlässig sind, selbst beim Grand Prix Eurovision. Einst unhinterfragt als schnöde Schlagerveranstaltung belächelt, gilt er – zumindest hierzulande – seit ein paar Jahren als Popevent. Guildo Horn und seine frenetische Überzeichnung der Schlagershow haben es 1998 möglich gemacht. Daran konnte auch Michelle drei Jahre später nichts ändern, als sie mit „Wer Liebe lebt“ zwar so etwas sang wie den größten anzunehmenden Schlager, ihr Lied aber mit dem durch nichts zu erschütternden Gestus der Hohepriesterin der Liebe darbot. Da war’s kein schnöder Schlager mehr, auch keine schlichte Ballade, sondern ein Schmachtfetzen von einem Song. Schlager leben davon, auf Augenhöhe des Publikums gesungen zu werden, nicht vom Olymp der überlebensgroßen Gefühle herab.

Dafür ist traditionell das Chanson zuständig. Auf diesem Terrain waren deutsche Vorentscheidungsteilnehmer über Jahrzehnte sehr zurückhaltend. Ein mustergültiger Vertreter dieses Genres war ausgerechnet der sonst auf Mitlall-Schlager à la „Schöne Maid“ abonnierte Tony Marshall, als er 1976 mit „Der Star“ den deutschen Vorentscheid gewann (aber später wegen einer Regelwidrigkeit disqualifiziert wurde). Jüngst erst, aus Anlass seines 65. Geburtstags (zu dem auch – wow! – „Tiger“ Tom Jones gratuliert haben soll), erzählte Marshall in die Fernsehkameras, er habe seine „Schöne Maid“ nie singen wollen, bis sich krebskranke Kinder gerade diesen Titel von ihm wünschten. Schlager ist für die Menschen reinen Herzens, Raffinement geht anders.

Das klassische Chanson lebt vom Gestus der eigenen Bedeutsamkeit und ist selbst in fremden Sprachen als solches identifizierbar. Nicht unbedingt der Inhalt macht aus einem Lied ein Chanson, sondern die Haltung zum Vortrag, das Pathos der Inszenierung. Kurios: Eigentlich will das Chanson einen gefühlten Inhalt auf die Bühne bringen, doch es überbetont das Gefühl. Die zum Aufblasen nötige viele Luft allerdings schafft auch Distanz, eine spürbare Künstlichkeit. Dieses Verfahren kann unbeabsichtigte Verfremdungseffekte zeitigen, aber gelegentlich auch einfach nur die Nerven der Zuhörer strapazieren (Patricia Kaas!).

Das Pathos des klassischen Chansons wird gerne unterstrichen durch raumgreifende Gesten – ein Verfahren, das im Pop verpönt ist. (Es sei denn, es handelt sich um eine Parodie. Dann wird das Pathos sozusagen entpeinlicht.) Pop, wie schon gesagt, ist cool, steht deshalb immer ein wenig neben sich, sträubt sich dagegen, sich vollends ernst zu nehmen. Das kann man sehen, und das hört man. Deshalb ist vieles, was aus Frankreich kommt, längst Pop und kein Chanson mehr. Schon Françoise Hardy stand in den frühen Sechzigerjahren schüchtern, fast ein wenig neurotisch auf der Bühne. Ein Star, der signalisiert „Bloß nicht auffallen“, ist … Pop!

Ein Popsong verlangt nach Unterspielen. Die Attitüde der Literarizität, das Überartikulierte, alles Schauspielerhafte hat hier nichts zu suchen. Um bei einem so pathosgefährdeten Unterfangen wie einem öffentlichen Liedvortrag so etwas wie „Natürlichkeit“ zu generieren, ist geradezu eine Distanzierung zum eigenen Auftritt erstrebenswert: durch betont unsauberes Singen, auffallend lässige Posen, den Gestus der Beiläufigkeit.

Bei den diesjährigen Konkurrenten um die deutsche Teilnahme am Grand Prix fällt vor allem die textliche Tendenz zum gutherzigen Antikriegstext auf. So heißt es bei den Tagträumern „Gewalt erzeugt Gewalt“ und ganz ähnlich bei der polnisch-deutschen Gruppe Troje „Hass macht nur Hass – und Liebe macht Spaß“. Das klingt reichlich naiv, nach Schlager auf dem allerkleinsten gemeinsamen humanistischen Nenner. Auf ähnlichem Textniveau arbeitet auch der Junge mit der Gitarre: „Heute denk ich nicht an Terror, nicht an Bomben, nicht an Krieg, heute denk ich an den Frieden, weil die Sonne den Frieden so sehr liebt.“ Hey, immerhin ist der Gitarrenjunge der Kandidat der FAS! „Wir haben die Liebe, und ihr habt die Macht.“ Eine halboffene Botschaft an die Frankfurter Zentrale? Aber es gibt auch noch die Gegenseite: Ein gewisser Sascha Pierro jubelt in seinem Beitrag „Wenn Grenzen fallen“: „Die Freiheit zu erleben, nehmen wir jeden Schmerz in Kauf.“ Sollte das wirklich alles Wort für Wort so gemeint sein? Dem Schlager eine neue Chance.