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Gehen oder bleiben?

„Nur wenn wir für sie singen“: Dominique Abel zeigt seinen Dokumentarfilm „Polígono Sur“ über die Ursprünge des Flamenco in der Kultur der Sinti und Roma im Panorama

Ein Esel schaut aus dem Fenster im vierten Stock eines heruntergekommenen Wohnblocks. „Das ist eine Metapher für den ganzen Film“, kommentiert Regisseurin Dominique Abel die surreale Szene, die, wie sie ergänzt, für die Dreharbeiten zwar gestellt wurde, vor wenigen Jahren aber noch durchaus möglich gewesen wäre: „Vergangenheit und Gegenwart des Viertels drücken sich darin aus.“ Die Gitanos („Zigeuner“) hielten ihre Tiere immer in der Wohnung, und wenn sie umziehen mussten, musste der Esel eben mit.

Der Stadtteil Triana in Sevilla galt einst als Vergnügungshochburg der Gitanos und neben Cádiz und Jerez als eine der Geburtsstätten des Flamenco. Doch der Flamenco wurde zusehends zu einem touristischen Spektakel, das Triana-Viertel zu einer unbezahlbaren Wohngegend. „Tres Mil Viviendas“, dreitausend Wohnungen hat der Staat daraufhin am Stadtrand für die geschaffen, die früher ein Wanderleben führten und heute unfreiwillige Umsiedlungsmaßnahmen über sich ergehen lassen müssen. Die ganze Welt hat die ehemalige Expo-Stadt am Guadalquivir 1992 zu sich eingeladen, doch gegen den ärmsten Teil ihrer eigenen Bevölkerung schottet sie sich immer noch ab.

Tres Mil ist eine Gegend, die die Payos, wie die Gitanos alle anderen nennen, unter allen Umständen vermeiden. Nicht einmal gegen Vorauskasse, erzählt einer der Bewohner, wären Taxifahrer bereit, Passagiere vom Zentrum in die sevillanischen Suburbs zu befördern. Sogar die Buslinien dorthin sind abgeschafft. In der öffentlichen Wahrnehmung steht Tres Mil für Kriminalität, Drogenmissbrauch und sozialen Verfall. Sechzig Prozent hier sind ohne festes Einkommen, die wenigsten Arbeitslosen erhalten staatliche Unterstützung. Keine Bildung, kein Job, keine Chance. Die Frage, die im Film immer wieder gestellt wird – gehen oder bleiben? – ist keine wirkliche Wahl.

„Flamenco“ hieß ursprünglich einmal „Fremder“. Musik und Tanz der Gitanos sind längst fester Bestandteil der spanischen Folklore geworden, nur sie selbst sind Fremde im eigenen Land geblieben. Dabei sind Sinti und Roma als Pilger schon vor 500 Jahren auf die Iberische Halbinsel eingewandert. Noch bis unter Franco waren sie bestenfalls eine schlecht geduldete Minderheit, erst mit der Verfassung von 1978 erhielten sie volles Bürgerrecht.

Etwa eine Million von ihnen leben heute in Spanien. Abgetrennt vom Rest der Gesellschaft, trennen sie sich auch selbst durch strenges Beharren auf traditionelle Strukturen ab. In den wenigsten Szenen von „Polígono Sur“ treten Männer und Frauen gemeinsam auf. Die Frauen sitzen zu Hause, die Männer in den Kneipen. Nur der Flamenco scheint sie zu verbinden. Schon die Kinder müssen sich in Cante (Gesang), Baile (Tanz), Toque (Gitarrenspiel) üben. In einer Szene soll ein etwa zehnjähriger Junge etwas vorsingen: „Er trifft die Noten nicht!“, korrigiert ihn sein jüngerer Bruder.

Flamenco ist die einzige Chance, aus „Tres Mil“ rauszukommen, und das einzige Ausdrucksmittel. „Sie hören nur auf uns, wenn wir für sie singen.“ Es gibt dennoch auch Hoffnung, und sie kündigt sich – wie auch sonst? – musikalisch an. Rafael Amador, neben seinem Bruder Raimundo ein Teil des Duos „Patas Negras“, das vor Jahren erstmals erfolgreich Blues und Flamenco miteinander kombiniert hat. Seither sind noch andere musikalische Einflüsse im Flamenco, etwa HipHop, Rock und Pop, stark geworden. Der Sänger und Gitarrist Amador ist einer der wenigen, die dank Plattenverkäufen dem Viertel den Rücken kehren könnte. Er hat sich jedoch entschieden, im „künstlerischsten Viertel in Sevilla“ (Plakatwerbung), wo jeder ein Amateur- oder Profimusiker ist, zu bleiben.

DIETMAR KAMMERER

Morgen, 14.30 Uhr, Cinestar 7

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