Millionen gegen Blair

Großbritannien erlebte die größte Demonstration seiner Geschichte. Bush-Freund Tony Blair hörte diesmal nicht zu

von RALF SOTSCHECK

Es waren mehr Menschen gekommen, als die Kriegsgegner erhofft und Tony Blair und Anhänger befürchtet hatten. Die Organisatoren der Friedensdemonstration in London sprachen am Samstag von zwei Millionen, selbst die Polizei räumte ein, dass es eine Million Menschen waren – „und alle waren friedlich“, wie der Einsatzleiter erfreut feststellte. Auf jeden Fall war es die größte Demonstration, die Großbritannien jemals erlebt hat.

Als die ersten auf der Kundgebung im Hyde Park ankamen, waren die letzten am Piccadilly Circus noch gar nicht losmarschiert. Sie verpassten die Reden des Liberalen-Chefs Charles Kennedy, des früheren US-Präsidentschaftskandidaten Jesse Jackson und der ehemaligen Blair-Vertrauten und Nordirlandministerin Mo Mowlam. Die Bürgerrechtlerin Bianca Jagger und die Schauspielerin Vanessa Redgrave waren gekommen, ebenso wie Tim Robbins aus Hollywood. Der Dramatiker Harold Pinter hatte einen seiner raren öffentlichen Auftritte. „Die USA sind ein Land“, sagte er, „das von einer Bande verrückter Krimineller angeführt wird.“

Natürlich waren die demonstrationserfahrenen Mitglieder der Campaign for Nuclear Disarmament und der Socialist Workers Party dabei. Aber zum ersten Mal hatten sie ihre Eltern mitgebracht. Auch Nonnen und Kinder, Anwältinnen, Zahnärzte und Friseure, die katholische Kirche und der Swaffham-Frauenchor marschierten mit. Für die meisten war es die erste Demonstration ihres Lebens. Diese Menschen sind gegen den Krieg – und sie werden Blair ihre Stimme nicht mehr geben, falls er gegen den Irak in den Krieg zieht. Die Organisatoren des Friedensmarsches glauben, dass Blair sich der Meinung der Bevölkerung beugen müsse. Schließlich habe er auch bei den Protesten gegen die lächerliche Rentenerhöhung, gegen die Benzinsteuer, gegen die Studiengebühren und gegen das Verbot der Fuchsjagd nachgegeben, um zu zeigen, dass er „ein zuhörender Premierminister“ sei, wie er sagt.

Diesmal hörte er nicht zu. Blair hatte London vorsichtshalber den Rücken gekehrt und sprach auf der Labour-Frühjahrskonferenz in Glasgow. Doch auch dort waren 100.000 Menschen auf der Straße. Blair versuchte nicht länger, einen Zusammenhang zwischen Terrorismus und Saddam Hussein zu konstruieren. Er verlegte sich auf moralische Beweggründe. „Es ist ein humanitärer Akt, die Welt von Saddam zu befreien“, sagte er. „Ich bitte die Demonstranten, folgendes zu verstehen: Ich bemühe mich keineswegs um Unpopularität als Ehrenabzeichen. Aber manchmal ist das der Preis, den man für politische Führung zahlen muss.“ Die letzten drei Seiten seiner vorbereiteten Rede warf Blair weg und sprach aus dem Stegreif. Wenn er jetzt Schwäche zeige, würden die „Folgen mit Blut bezahlt“, warnte er. Er verstehe den Hass der Demonstranten auf den Krieg. Er habe es auch jedesmal gehasst, wenn er britische Truppen in den Krieg schicken musste, ob in den Kosovo oder nach Afghanistan.

Blair weiß, dass er vor dem gefährlichsten Abschnitt seiner Amtszeit steht, das hat er gegenüber seinen Beratern eingeräumt. Und er gibt zu, dass ein Irakkrieg das Ende von „New Labour“ einläuten könnte. Doch er müsse den Mut haben, „schwierige Dinge zu tun“. Es wäre „ein Signal, dass wir die Politik für immer verändert haben“, falls er es überstehe. Seine Partei applaudierte höflich, doch viele Delegierte blieben bei den stehenden Ovationen demonstrativ sitzen und hielten statt dessen Plakate hoch: „Kein Blut für Öl“.