Elf Stunden ganz nah dran

Günter Wallraffs Profitipps für junge Leute oder wer fragt hier wen aus? Startreff zwischen Pasta und türkischem Kaffee, Persönlichkeitsanalyse zwischen Nüssen und Tee: Auf dem Weg zur Journalistin

Er schaut mich an und sagt: „Kommen Sie doch mit essen!“Wie ein Tauschgeschäft gibt er für jedes kleine Geheimnis auch eines zurück.

taz ■ Als der Herr mit der schwarzen Lederjacke den Saal betritt und den Gang zwischen dem Publikum zur Bühne passiert, fängt der Veranstalter am Eingang an zu klatschen. Er scheint das Publikum darauf hinweisen zu wollen, dass nun der Künstler den Raum betreten hat. Wahrscheinlich hätte ich ihn auch nicht erkannt: Günter Wallraff ist in Oldenburg. Der Schnauzbart und die buschigen Augenbrauen, bekannt vom Cover seiner Bücher, sind grau geworden, die Haare kürzer. Er liest aus seinem neuen Buch „Ich – der andere“. Im ausverkauften Saal drängen ältere Frauen und Männer auf ihre Sitze neben jungen SozialwissenschaftsstudentInnen.

Günter Wallraff liest oder besser erzählt eine Auswahl seiner bekanntesten Reportagen: Bild, Gerling, Thyssen. Auch aus seiner Autobiographie, an der er gerade arbeitet, gibt er eine Kostprobe. Immer wieder wird er von spontanem Applaus unterbrochen. „Toll. Unglaublich. So was hätte ich mich nicht getraut“, tuschelt es um mich herum.

Nach der Lesung schreibt er Autogramme in die Bücher, die seine Zuhörer schnell noch am Eingang gekauft hatten. „Für soundso“. Als die Schlange immer kürzer wird, reihe ich mich ein, obwohl ich eigentlich kein Autogramm möchte. Ich, 21, Praktikantin bei der taz bremen und etwas planlos, hole aufgeregt die aktuelle Ausgabe der taz aus meiner Tasche, schon bin ich dran. „Hallo – ich möchte Journalistin werden. Können Sie mir sagen, wie ich eine gute werde?“ Wallraff lacht auf. Dabei zieht er seine Mundwinkel kurz hoch und lässt sie dann ruckartig fallen. „In einem Satz?“ Ich lege ihm die Zeitung auf seinen Tisch, und er überlegt. „Fürchtet euch nicht“, kritzelt er schnell an den Rand. Dann wendet er die Zeitung und fügt hinzu: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ Er schaut mich an und sagt: „Kommen Sie doch mit essen!“

„Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“, überlege ich und schließe mich der Gruppe um Wallraff an. Es geht zum Italiener.

„Gehen Sie ins Ausland, lernen Sie Sprachen, lernen Sie einen zweiten Beruf und spezialisieren Sie sich auf ein Fachgebiet“, rät das Vorbild – bevor es bei Pasta und Weißwein immer mehr zum Menschen wird. Wallraff zeigt den anderen am Tisch und mir Fotos von seinen Steinskulpturen, spricht über Benjamin von Stuckrad-Barre, über Literatur, Kunst und Tschetschenien. Das Essen dauert bis drei Uhr morgens. Für den nächsten Vormittag lädt er uns in sein Hotel ein. 11.15 Uhr – vorher will er noch laufen gehen.

„Fürchtet euch nicht“, denke ich und finde mich am nächsten morgen in der Lobby des Hotels wieder.

„Hier können wir nicht bleiben, die Einrichtung macht mir schlechte Laune. Wir könnten hier schwimmen gehen?!“ – Günter Wallraff war doch nicht laufen. Wir fahren in die Wohnung eines Künstlers, dessen Bilder sich der Journalist anschauen möchte.

Bei der Lesung am Abend zuvor wurde Günter Wallraff als Journalist mit besonderer Gabe vorgestellt. Er könne Menschen jede Information entlocken, hörte ich. Bei Tee und Nüssen werde auch ich fast unbemerkt von dieser Gabe überrannt – innerhalb weniger Stunden kennt er mein Privatleben.

„Nehmen Sie sich mal einen Zettel und einen Stift“, sagt er unvermittelt. „Und jetzt malen Sie einen Baum, einen Weg, ein Haus, eine Sonne und eine Schlange. Ganz spontan.“ Wallraff sitzt auf dem Sofa und erwartet die Zeichnungen. Ich überlege, was er damit erreichen möchte und wie ich mein Innerstes vor ihm schützen kann. Etwas skeptisch mache ich dann aber mit. Als würde er über das Wetter reden, deutet Günter Wallraff die Anordnung meiner gezeichneten Symbole. „Das ist nur ein Spiel“, grinst er, nachdem er meine Partnerschaft, Verhaltensweisen und mein Sexualleben anhand einer Schlange und ein paar Bäumen analysiert hat. Er hat mich entblößt, ohne mich zu verletzen, er weiß mit der Verantwortung umzugehen. Wie ein Tauschgeschäft gibt er für jedes kleine Geheimnis auch eines zurück.

Am frühen Nachmittag gehen wir durch die Oldenburger Innenstadt, um beim Türken zu Mittag zu essen. Günter Wallraff schaut sich aufmerksam um. Er scheint jede Person kurz abzuscannen. Nebenbei erklärt er mir, warum ich aufhören müsse zu rauchen und fragt dann ganz unverblümt: „Haben Sie Drogenerfahrungen?“ Er beugt seinen Kopf etwas näher in meine Richtung und senkt seine Stimme: „Das bleibt auch unter uns.“ Dann heben sich seine Mundwinkel wieder zu einem verschmitzten Lächeln – diesmal lässt er sie etwas länger angehoben.

Ins Ausland möchte ich im Moment nicht gehen und in Kursen eine weitere Fremdsprache lernen liegt mir gerade auch nicht. Vielmehr geholfen haben die leisen Tipps des Vorbilds. Die Art des zielstrebigen, aber vorsichtigen Annäherns an einen Menschen – die eigene Würde und die des Gegenübers bewahrend. Auch so wird man eine gute Journalistin.

Laura Ewert