Späte Funken einer Sprengung

aus Leipzig THOMAS GERLACH

Eine Zeitmaschine wäre gut. Ob Manfred Wurlitzer dann anders handeln würde? Und die vielen Leipziger, die geschwiegen haben – mit der Faust in der Tasche? Manfred Wurlitzer hat nicht protestiert gegen die Sprengung der Universitätskirche am 30. Mai 1968 in Leipzig, jedenfalls nicht laut. Ulbricht hat die Kirche geschlachtet wie ein störrisches Pferd, er hat allen gezeigt, wo der sozialistische Hammer hängt.

„In stiller Last habe ich alles über mich ergehen lassen.“ Manfred Wurlitzer sagt das sachlich. Er war kein Protestierender in jenem Mai, als Walter Ulbricht eine herrliche Zukunft herbeisprengte. Assistent sei er gewesen, sagt er. „Ich hatte ja schon Familie.“ Später wurde der Physiker Oberassistent, ein Parkplatz für Akademiker, denen es an sozialistischem Eifer gebrach, ein Leben auf dem Zwischenboden des Sozialismus. Jetzt, mit 69 Jahren, steht er vor dem großen Versuch: Die Universitätskirche soll auferstehen. Es könnte klappen – in Dresden bei der Frauenkirche hat es funktioniert. Kirchen wird gelegentlich eine zweites Leben geschenkt, Kirchen haben es besser.

Labor für Kirchenauferstehung

Wurlitzer war an der Uni Spezialist für Supraleitungen und Magnetismus, ein Mann der unsichtbaren Kräfte. Sein jetziges Labor ist das Büro des Paulinervereins mit blauen Stühlen, Pappkartons und dünnen Wänden. Der Verein hat sich vor über zehn Jahren mit dem Ziel gegründet, den Wiederaufbau der Universitätskirche zu erreichen. Als überschaubar galt der Haufen, als chancenlos das Ziel.

Jetzt ist Leben in der Bude, auf einmal. Ende Januar beschloss das sächsische CDU-Kabinett unter Ministerpräsident Georg Milbradt, die Wiederaufbaupläne zu unterstützen. Zur 600-Jahr-Feier der Uni im Jahr 2009 soll ein neuer Campus stehen. Das war schon lange klar, nicht aber, dass die Kirche auferstehen könnte. Die Staatsregierung gibt dafür zwar kein Geld, hält aber die Fläche frei. Das ist neu. „Vertrauensbruch!“, rief der Rektor der Universität und trat zurück, die Prorektoren auch, die Studentenräte demonstrierten.

Im Vereinszimmer läutet das Telefon. Ja, ruft Wurlitzer in den Hörer, man brauche noch Unterstützung. Er legt auf. „Ein Vereinsmitglied.“ 40 neue Mitglieder innerhalb von zwei Tagen, jetzt seien es schon über 400, und längst nicht nur Leipziger. Der Verein will unter der Leitung Wurlitzers und des Nobelpreisträgers für Medizin, Günter Blobel aus New York, der Kirche neues Leben einhauchen. Blobel und Wurlitzer – zwei Kriegskinder aus Deutschland. Den einen hat das Leben erst zum Amerikaner, dann zum Nobelpreisträger für Medizin gemacht, beim anderen purzelte aus dem Füllhorn nur der dunkelblaue DDR-Ausweis.

Günter Blobel gab schon sein Nobelpreisgeld für den Wiederaufbau von Synagoge und Frauenkirche in Dresden hin. Nun versprüht das Glückskind aus New York Aufbauwille und E-Mails Richtung Leipzig. Blobel ist der Vorsitzende des Paulinervereins, Wurlitzer einer der Stellvertreter. In sechs Jahren könnten die beiden nebeneinander in der Kirche sitzen, dann ist 600-Jahr-Feier. Vorausgesetzt, der Verein hat 25 Millionen Euro für den Wiederaufbau gesammelt. Und vorausgesetzt, die Universität stimmt doch noch dem Wiederaufbau zu. Und vorausgesetzt, das Leipziger Rathaus steht hinter dem Projekt. Und vorausgesetzt, die Staatsregierung in Dresden steht auch in Zukunft zu ihrem Beschluss. Ein Experiment mit reichlich Unbekannten – eine Herausforderung für Forschernaturen.

Wenigstens das ist klar: Etwas Neues wird gebaut – Hörsäale, Seminarräume, Läden, ein Café. Und nach dem ursprünglichen Willen der Universität ein „geistiges Zentrum“, das das Andenken an die Kirche bewahren soll. Ein Wiederaufbau blieb bisher ausgeschlossen. Geistiges Zentrum – es klingt nach Kraftwerksbau, Supraleitung und etwas intellektuellem Magnetismus. Manfred Wurlitzer ist in seinem Element, er wirkt noch ein wenig unsicher, doch emsig bündelt er die Energien zu geistiger Elektrizität. Auf dem Tisch liegen Prospekte, eine Machbarkeitsstudie und Unterschriftenlisten. Doktoren, Professoren und Haufrauen darauf, 27 Nobelpreisträger einschließlich Blobel, ein Weizsäcker vom Starnberger See, Maler, Kapellmeister, aus Ost und West, viele ehemalige Leipziger Studenten – zehntausende Volt, hunderte Megawatt, bald schlägt aus dem Vereinsbüro ein Funke und springt hinüber zum ehemaligen Karl-Marx- und heutigen Augustusplatz. Er lässt die Hallenkirche leuchten. „Auch die Universität hat eine Schuld abzutragen.“ Manfred Wurlitzer in Anzug und Krawatte hat ein Heftchen zurechtgelegt. „Die Leute, die damals die Sprengung unterstützt haben, leben alle noch.“ Wurlitzer hat in Berichten gelesen, war bei der Stasiakten-Behörde, hat Indizien zusammengetragen: Hat nicht ein Professor vom Institut für Kunstgeschichte im Januar 1990 in einem Gutachten dafür plädiert, dass Universität und Platz unter Denkmalschutz stehen und weiterhin den Namen Karl Marx tragen sollten? Und eben diesen Professor beruft der Rektor zum Sachverständigen bei der Vorbereitung des Architekturwettbewerbs? Und was fordert dieser Wettbewerb? Dass das Wandgemälde im Hauptgebäude, Titel: „Arbeiterklasse und Intelligenz“, auch in der neuen Uni wieder aufgestellt werden soll? Darauf zu sehen: Paul Fröhlich, erster Sekretär der SED-Bezirksleitung, Leipzigs Oberbürgermeister Kress und andere Parteiobere – eben jene Leute, welche die Kirche in Ulbrichts Auftrag gesprengt haben. Wurlitzers Ergebnis: „Eine atheistische Front richtet sich gegen den Wiederaufbau.“

Eigentlich müsste der Mensch Wurlitzer eifern wie sein Pamphlet, doch er wirkt wie ein Sekretär, vielleicht wie ein Museumsdirektor. Andächtig führt er durch das Büro und zeigt die kargen Exponate. Fotos hängen an der Wand: die Kirche, das Universitätshauptgebäude „Augusteum“ – der Augustusplatz war das prächtigste Zimmer in einer prächtigen Stadt. Die Zeit verlangsamt sich. Musik täte jetzt gut. Es ist alles plastisch, zum Greifen nah. Eine Zeitmaschine wäre wirklich gut. Noch einmal die Kirche anfassen! Es geht auch um Versagen.

Tatsächlich, jetzt hat Wurlitzer die Kirche in der Hand, sie ist braun und klein wie ein Brot. „Ja, das ist ein einfaches Modell, ganz schlicht,“ sagt er nüchtern und stellt es wieder ins Regal. Irgendwer habe vor Jahren das Kirchlein aus Holz gebaut. Und in dieser Kirche ist schon Leben, doch als geistiges Zentrum unbrauchbar: Holzwürmer.

Anderthalb Kilometer Luftlinie von Wurlitzers Büro liegt der Augustusplatz. Hier würde der Funke einschlagen. Ein symbolischer Kirchengiebel reckt sich in den Himmel, dreieckig, haushoch und aus Eisen. Den hat der Paulinerverein vor fünf Jahren zur Erinnerung an die Kirche errichtet. Hier fährt der Blitz in die Erde. Doch der Giebel selbst sendet Signale, und die sind widersprüchlich. Zwischen seinen Eisenbalken blickt ein gütiger Karl Marx wie ein Großvater hervor, und viele sozialistische Enkel drängen hinaus aus dem Bronzerelief, das an der Uni klebt wie ein tonnenschwerer Baumpilz. Über dem Platz treibt eine Wolke aus Krähen, rot-weißes Absperrband flattert im Wind, daran Zettel: „Achtung Baustelle! Hier wird unsere Zukunft verbaut!“ Der Studentenrat protestiert gegen den Wiederaufbau. Hier haben neulich einige hundert Studenten gegen die Wiedererrichtung demonstriert. Universität und Kirche? Das ist offenbar so etwas wie ein Computer mit Pedalantrieb. „Eine geistige Mitte gibt es schon! Wir brauchen keine Kirche, um diese wiederzuerlangen“ steht auf einem Plakat im Haupteingang. Wer war Walter Ulbricht? Der Schutt der Kirche ist Schnee von vorgestern. Beim Wort Staatswillkür denken heutige Studenten an Stellenkürzungen und überfüllte Hörsäale, ihr Buhmann heißt Matthias Rößler, Wissenschaftsminister der CDU-Regierung in Dresden, und Manfred Wurlitzer ist ein sentimentaler alter Mann. Die einen kennen nichts als das Marx-Relief, die anderen können ihre Kirche nicht vergessen.

Das Fiese an Leuten mit Tränen

„Sie haben nicht gesehen, wie schlimm das war, als die Kirche gesprengt wurde!“ Im Foyer des Hörsaalbaus steht eine ältere Frau am Proteststand der Studenten. „Die Kirche war wirklich wunderschön. Sie würden sich freuen. Schauen Sie, in Warschau ist alles wieder aufgebaut.“ Sie blickt sich nach Unterstützern um. Vergebens. „Ich hab’s mir hundertmal überlegt, und es ist auch ein bisschen kitschig, aber es wäre sehr schön.“ Silke vom Studentenrat hat anderes im Gedächtnis. „Ich kenne den Palast der Republik, ich bin in der DDR groß geworden …“ Sie stutzt, zeigt mit der Handfläche auf ihren Nabel. „… na ja, so groß geworden. Warum muss der Palast denn abgerissen werden?“ Silke dreht Zigarette und Feuerzeug in der Hand, die Frau presst ihre Handtasche an die Brust. „Sie würden anders reden. In der Kirche waren die Gräber der Uniprofessoren drin. Es geht nicht um Wiedergutmachung, es geht um die zukünftigen Generationen.“ Sie wendet sich kopfschüttelnd ab, reckt noch einmal den Finger, sagt „Sie sprechen jedenfalls nicht für alle Leipziger!“ und geht. Silke zündet die Zigarette an, beugt sich zum Nachbarn und seufzt: „Es ist das Fiese, wenn man mit Leuten diskutieren muss, die Tränen in den Augen haben.“

Caspar Borner hat alles mitgehört, einmischen kann er sich nicht, dieser Rektor ist über 450 Jahre tot. Auf sein Betreiben hat Herzog Moritz von Sachsen 1543 das Dominikanerkloster mitsamt Kirche der Universität geschenkt. Borners Epitaph steht seit der Sprengung mit Kordeln umspannt im Hörsaalbau wie mittelalterliche Folklore. Hier irgendwo zwischen Terrazzoplatten soll das geistige Zentrum entstehen. Der Theologe Borner hätte sicher gerne seine Kirche wieder. Aber Tote protestieren nicht, tote Rektoren können nicht auferstehen. Kirchen dagegen wird gelegentlich eine zweites Leben geschenkt.