Bestien mit zerbrechlichem Goldrand

Die Hölle ist die Wiederholung: In den vergilbten Räumen des Schokoladens gibt das Orphtheater Müllers „Quartett“ als ewigen Machtkampf

Zu Beginn schaltet das Mädchen im kurzen Kleid den gewaltigen Gasofen aus, der riesig und rostig von links in die Szene ragt. Sie muss doch frieren, glaubt man am Anfang von Heiner Müllers „Quartett“ und wartet geradezu auf ihre Gänsehaut – aber erst am Schluss schlingt sie ihre Arme fröstelnd um ihren Körper. Zwischen Ofenausschalten am Anfang und Frösteln am Ende aber wird im Orphtheater eingeheizt.

Heiner Müllers 1982 uraufgeführtes Stück besteht nur aus einem einzigen großen Dialog zwischen dem Vicomte de Valmont und der Marquise de Merteuil. Gleich am Anfang, nachdem die beiden mit unendlicher Mühe hinter dem Ofen hervorgekrochen sind, greift die Marquise (Inés Burdow) einen der Sätze auf, die das Mädchen zu Beginn vor sich hin geplaudert hatte: „Ich glaubte Ihre Leidenschaft für mich erloschen, Vicomte!“ Mit diesem Satz ist das Thema der Konversation vorgegeben, und schon bald stellt der Vicomte (Matthias Horn) fest: „Mich langweilt die Bestialität unserer Konversation!“

Im Schokoladen, in dem das Orphtheater diesmal spielt, findet das Gespräch zwischen Vicomte und Marquise rund um den kantigen Industrieofen statt, das einzige „Einrichtungsstück“ des Salons. Die Wände überzieht vergilbendes Papier, auf dem sich verblasste Schriftzüge abzeichnen. Unverzichtbar aber sind die Teetassen, zarte Gebilde mit Goldverzierung, zu halten selbstverständlich mit abgespreiztem kleinem Finger.

Heiner Müller wollte mit „Quartett“ ein Stück schreiben, das zugleich vor der Französischen Revolution und nach dem Dritten Weltkrieg spielen sollte – vor der Proklamation der Ideen „liberté, égalité, fraternité“ also und nach dem endgültigen Zusammenbruch aller Wertesysteme. In den 1782 erschienenen „Liaisons dangereuses“ von Laclos fand er eine passende Vorlage: Bei Müller wird die Geschichte zugespitzt auf einen Machtkampf zwischen den Geschlechtern, der gerade in seiner unendlichen Wiederholung an Brutalität kaum zu übertreffen ist.

Beide Akteure sind bestens vertraut mit den Rollenmustern, die für ihr Geschlecht und für das andere verbindlich sind. Als deshalb die Marquise den Vicomte davon abbringen möchte, die ehrbare Madame Tourvel zu verführen, und ihm stattdessen ihre jungfräuliche Nichte ans Herz legt, können die Rollen aller ohne weiteres von den beiden Anwesenden besetzt werden. Die Marquise übernimmt den Part des Vicomte, der spielt die tugendhafte Madame Tourvel – und im weiteren Verlauf wird dann nicht nur der Selbstmord der Verführten, sondern auch gleich noch „die Vernichtung der Nichte“ durchexerziert.

In diesem Spiel des Spiels beschleunigt sich das Tempo der Inszenierung von Christin Eckart und Matthias Horn: Wo vorher lähmende Langsamkeit war, wo der Vicomte sagen konnte: „Unser erhabener Beruf ist es, die Zeit totzuschlagen“, da hetzt zum Schluss der Rhythmus ihrer eigenen Sätze die Schauspieler voran. Aber hinter dem fortwährenden Rollentausch lauert die Resignation. Seiner Bemerkung: „Ich glaube, ich könnte mich daran gewöhnen, eine Frau zu sein“ entgegnet sie: „Ich wollte, ich könnte es.“ ANNE KRAUME

Orphtheater im Schokoladen, Ackerstr. 169/170, 20.– 23. 2., 26. 2., 28. 2.– 2. 3., 20 Uhr