berliner szenen Endzeiterwartung

Schnell noch was gespart

Ein ordentlicher Massenwahn ist wie ein guter Rausch und demzufolge eine zeitlich beschränkte Angelegenheit: Man kauft und verkauft eine Weile Tulpenzwiebeln oder Internetaktien, und irgendwann ist das Geld alle und die liebe Seele hat Ruh und man kann sich wieder dem wahren Leben zuwenden.

Nachhaltiger ist da – um im Bild zu bleiben – der ständige Konsum und somit der alltägliche Wahn, der allmählich von uns Besitz ergreift und nie wieder loslässt. Wer kann seit dem Euro noch richtig kalkulieren? Den Betrag halbieren? Verdoppeln? Spielt letztlich auch gar keine Rolle mehr, gekürzt werden muss er sowieso. Zum Jahresende glaube ich fest an diese Notwendigkeit: So kann es nicht weitergehen mit mir, mit Berlin, mit Deutschland – wir alle müssen einsparen, enger schnallen, Maß halten. Also schnell noch zum Ortho- und Logopäden, zur Gynäko- und Urologin, damit das neue Jahr nicht mit einer Praxisgebühr beginnt. Ein letztes Mal eine Lebensversicherung abschließen, sich ein Eigenheim zulegen, noch einmal gebührenfrei an der Uni studieren und bei der Pendlerpauschale ordentlich bescheißen. Endzeiterwartung.

Und so sitze ich bei der Frisörin. Eine Salongebühr plane sie zwar nicht, sie freut sich aber trotzdem, mich noch im alten Jahr zu sehen. Fasson wie immer. Sie holt Luft und legt los: Meisterordnung, Rente, Zahnersatz … wir verlieren uns in der Agenda. Schließlich der Blick in den Spiegel: Rosa Kopfhaut blinkt. Zu spät. Zu kurz! Erschrocken lässt sie die Schere sinken, fasst sich aber sogleich, spendiert mir ein Fläschchen Birkenwasser und beruhigt mich: „Keine Sorge, 2004 geht’s wieder aufwärts, da wachsen selbst die Haare schneller.“ Auf das neue Jahr!

CARSTEN WÜRMANN