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Amerikanischer Kanon

Das Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker mit der Jazzsängerin Dianne Reeves

Als Wynton Marsalis vor knapp drei Jahren seine letzte Zugabe spielte, hockte Claudio Abbado auf dem Boden der Berliner Philharmonie und hörte, wie die teuren und guten Jazzkünstler aus New Orleans und New York über den Gershwin-Klassiker „Embraceable You“ improvisierten. Selbst der Jazzrevolutionär Ornette Coleman hat dieses Stück einmal aufgenommen, das Generationen von afroamerikanischen Sängerinnen in sich aufgesogen und mit Würde und Wahrhaftigkeit gesalzen haben, bis man irgendwann vergaß, wie banal der Kontext einst war, aus dem es kam. In dem 1930 von Gershwin komponierten Musical „Girl Crazy“ ging es, kurz gesagt, um den lasterhaften Playboy Danny und wie die Postdame Molly einen verantwortungsbewussten Menschen aus ihm macht. Die Message: Allein aus Liebe ändern sich die Menschen – so entsetzlich einfach ist das manchmal.

Die Häppchen, die die Berliner Philharmoniker am Dienstag und Mittwoch in ihrem Silvesterprogramm verspeisten, waren aus solchem Stoff. Doch anders als zu Claudio Abbados Zeit, als sich das Orchester noch sichtlich durch die Partitur der Marsalis-Suite „All Rise“ mühte, schien hier jetzt alles im Fluss zu sein. Geschmeidig, sanft, in sich ruhend. Es war das erste Konzert der Philharmoniker nach ihrer überaus erfolgreichen USA-Tournee, und es schien fast, dass dieser Trip das Orchester noch zusätzlich für die Interpretation dieser sehr amerikanischen Musik sensibilisiert hat. Keine Stakkati, kein lähmendes Musikantendeutsch, längst ad acta die Tendenz, jedes Jazzarrangement wie eine Operette zu phrasieren.

Alles, was die amerikanischen Komponisten an den deutschen Orchestern immer kritisiert haben: bei Simon Rattle und den aktuellen Philharmonikern keine Spur mehr davon. Nach einer, nun ja, museumsreifen Orchesterouvertüre betritt die wichtigste afroamerikanische Jazzsängerin ihrer Generation die Bühne der Philharmonie. In ein grüngoldenes Abendkleid gehüllt singt Dianne Reeves, Jahrgang 1956, stolze und selbstbewusste Gershwin-Interpretationen in der Tradition einer Sarah Vaughan, Carmen McRae und Betty Carter.

Die Orchestrierung der von Reeves gesungenen und von Simon Rattle dirigierten Gershwin-Songs stammt von dem erfahrenen Jazzarrangeur Vince Mendoza, und gerade in den leisen Passagen ist die Atmosphäre so fantasiereich getroffen, dass man meint, New York atmen zu können. Probleme mit der Akustik, die wahrscheinlich das live übertragende ZDF auf dem Gewissen hat, tauchten leider auf, als das Orchester laut und kräftig wurde. Dann drang Reeves’ Stimme nicht mehr durch. Ansonsten schien diesmal alles zu stimmen – die Beleuchtung, die Stimmung der Musiker, das Publikum: Nur drei, vier Sitze in der 110-Euro-Kategorie blieben leer. Das Problem jedoch, das diese Superband hat, liegt in der Programmierung. Zumindest, wenn es um Jazz geht. Dann werden die Juwelen eingeklemmt in senile Walzerstimmungen à la Ravel und Gershwin, als scheue man den Glanz. Und warum Simon Rattle die Zugabe von Dianne Reeves nicht als krönenden Abschluss setzt, sondern als „Vorspeise“ zu Ravels „Daphnis et Chloé“ ankündigt, ist einfach nur peinlich. Wenn man sich dieser staubig-überheblichen Attitüde – Klassik gleich ernsthaft, Jazz gleich Fun – entledigen könnte, täte man sich den größten Gefallen. Die Musik ist da schon weiter. CHRISTIAN BROECKING

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