Die Mulde war ihr Schicksal

Grimma in Sachsen hat die Hochwasserkatastrophe im August letzten Jahres noch nicht verwunden. 40 Häuserwurden komplett zerstört, 500 sind einsturzgefährdet. Zum 800. Stadtjubiläum war zuvor fast alles saniert worden

von LEONARD SONNENSCHEIN

Sie hat so viele Schlagzeilen gemacht, die kleine Stadt an der Mulde, die vor der Flut kaum jemand kannte. Dem Hochwasser folgte eine Welle der Hilfsbereitschaft, doch dann war Ebbe: Grimmas Gastwirte und Hotelbesitzer sitzen nun auf dem Trocknen und schnappen nach Luft. Aufgeben will dennoch niemand. „Grimma wird leben“, verheißen Plakate an den noch immer feuchten Wänden der gefluteten Häuser und auf den Handzetteln im Tourismusbüro.

Allein, es fehlen die Gäste. Einsam treiben wir mit der Muldenfähre bis an die schroffen Felsen kurz vor dem rauschenden Wehr. Still steht der Reiher im Wasser, das wieder so friedlich durch die Muldenauen fließt. Auf dem Gipfel hüllt sich ein zierliches Kastell in Immergrün. Sächsische Loreley, zum Seufzen schön. Früher beförderte die Mulde Holz aus dem Erzgebirge, dann leitete sie Schadstoffe aus dem Chemieanlagenbau durch die Stadt.

Vergangenheit – Grimmas Gegenwart spricht von 18 Prozent Arbeitslosigkeit und setzt mit seinem lieblichen Kloster- und Mühlental in Zukunft auf Tourismus. Eine halbe Stunde flussaufwärts dreht sich Deutschlands letzte funktionstüchtige Wassermühle und speist mit dem Muldenwasser die Fontänen im romantischen Jutta-Park. Am Ufer gegenüber liegen die brandroten Mauerreste vom Kloster Nimbschen im grünen Gras. Das ehemalige Zisterzienserinnenkloster, dem einst Luthers Gattin Katharina von Bora entfloh, ist Pilger- und Picknickstätte, die ganze Gegend südlich von Grimma mit sanften Wiesenhügeln, Wäldern und Streuobstwiesen gilt bei den Sachsen als beliebtes Wandergebiet.

Hier aber, wo der Fluss seinen Haken zur Stadt hin schlägt, bekommt die Idylle Risse. Der elegante Schwung der schmalen 80 Meter langen Hängebrücke ist gebrochen, das genietete Stahlgestell eingeknickt, die silbrigen Seile sind verbogen. Rohe Kräfte haben die längste Hängebrücke Sachsens, Grimmas größte Touristenattraktion, fast aus den Angeln gehoben. Wild warf sich die Mulde an dieser Stelle im letzten Sommer aus ihrem Bett und zerstörte, was im Weg war.

Auch ohne Hochwasser ist dieser Fluss einer der schnellsten Deutschlands. 800 Meter vor der Innenstadt soll sie ein Gefälle von 4,20 Meter haben, ebenso viel wie der Rhein zu Füßen der Loreley auf einer Strecke von 20 Kilometern. Stellenweise acht Meter hoch raste der Fluss durch die schmalen Gassen von Grimma. Die traurige Bilanz nach 24 Stunden Flut: 500 Häuser in der Innenstadt sind einsturzgefährdet oder stark sanierungsbedürftig, vierzig Häuser müssen abgerissen werden. Dabei hatte man zum 800. Stadtjubiläum zwei Jahre zuvor fast alles saniert, auch die Uferpromenade, nur ein paar Schritte vom Anleger der Muldenfähre entfernt.

Sechs Monate nach der Flut spazieren wir zum frisch aufgeschütteten Ufer. Noch ist es zerwühlt, doch auf Sandhaufen und zerrissenen Grasnarben stehen wieder die Angler und halten ihre Ruten ins Wasser. Die gotische Klosterkirche und das Renaissanceschloss geben von weitem noch heute ein anrührendes Panorama, wenn auch vieles nur Fassade ist, das entkernte Gotteshaus, in dem einst Luther predigte, eine zur Zeit ziemlich feuchte Mehrzweckhalle; das Schloss, bislang Behördensitz, steht seit dem Hochwasser leer.

Schon früh entstand an jener Stelle ein Übergang über die Mulde, zu dessen Schutz Markgraf Otto von Meißen 1170 den Vorgängerbau errichten ließ. Heute spiegelt sich der Torso der barocken Pöppelmann-Brücke im Wasser. Die goldene Krone auf dem sächsisch-polnischen Wappen Augusts des Starken triumphiert trotzig mitten im Bild der Zerstörung. Die lateinische Inschrift besagt: „Für die Ewigkeit …“ Die war 1945 fast zu Ende, deutsche Truppen sprengten die vom Architekten des Dresdner Zwingers erbaute Brücke. Bereits 1948 wieder aufgebaut, erlöste Mitte der 90er-Jahre eine moderne Nebenbrücke den denkmalgeschützten Bau, der einst für den Transfer von allenfalls täglich hundert Pferdekarren errichtet wurde, vom rasant angewachsenen Verkehr.

2001 wurde die Pöppelmann-Brücke nochmals gründlich saniert. Dann kam die Flut und die Brücke war hinüber. Niemand ahnte, welche Kraft das mit Treibgut bewaffnete Hochwasser entwickeln sollte. Infrastrukturschäden in Grimma: 250 Millionen Euro. Die Brücke ist nur noch ein Wrack, soll aber wieder aufgebaut werden.

Auch Grimmas Ladenstraße und das soeben restaurierte Renaissance-Rathaus versanken in der braunen Brühe. Noch zehn Zentimeter und der kostbare Schnitzaltar von 1525 in der gotischen Frauenkirche wäre hinüber gewesen. Die Belletristik-Abteilung der Stadtbibliothek floss davon, auch Beate Mätzold sah sämtliche Schuhe durch die zerborstenen Scheiben ihres Ladens von dannen schwimmen. Sie selbst war im vergitterten Laden eingesperrt. Das Wasser stand ihr buchstäblich bis zum Hals. Jetzt sind es die existenziellen Sorgen, die ihr die Tränen in die Augen treiben. Ein Teil der alten Stammkundschaft kauft die Schuhe längst woanders. Im engen Container kann man sich ja kaum drehen. Doch „Jammern nützt nichts“.

Buchhändlerin, Schuh- und Textilverkäuferin wärmen sich vor ihren Ersatzläden beim „Scheelchen Heeßen“ und erzählen lieber von den unzähligen Menschen, die damals aus allen Teilen Deutschlands nach Grimma kamen, um zu helfen. Nun ist man zwar wieder unter sich, das kollektive Drama wird zum Einzelschicksal, doch was viele bewog, dennoch durchzuhalten, davon sprechen auch die Danksagungen und Selbstermunterungen an fast jedem Haus: „In der Not wurde der Fremde zum Freund und Helfer. Auch wenn es nicht leicht wird, ich wage den zweiten Anfang und hoffe auf treue Kunden“, schreibt Maria Wrobel an die Fenster ihres Trikotagen -Geschäfts. „Wir bleiben hier – Grimma wird wieder die Perle des Muldentals“, heißt es andernorts.

„Die Leute sind stark“, sagt Henning Auth aus Lüdenscheid, „wir Wessis wären da anders.“ Wochenlang stagnierte auch in seiner kleinen Etuifabrik die Produktion. Nur wenige Monate vor der Flut hatte er das traditionsreiche Unternehmen übernommen, das mit Stolz von sich sagen kann, auch Elton John und das englische Königshaus besitzen ein Grimmaer Brillenetui. Inzwischen werden wieder 80.000 Brillenetuis pro Jahr produziert.

Bis die Wände der Geschäfte trocken sind, verkaufen viele Händler ihre Waren, Bücher, Schuhe und Krawatten, in den vom Hamburger Lions Club gesponserten Containern auf dem Marktplatz. Über 7 Millionen Euro Spendengelder sind inzwischen nach Grimma geflossen. Irgendjemand hat der bronzenen Eva vor dem Rathaus, die 1912 der Grimmaer Gewerbeverein zur Zierde des Marktes gestiftet hatte, ein warmes Wollkleid über den nackten Leib gezogen. Der Pfeil des goldigen Cupidos auf dem Turm des nun wieder restaurierungsbedürftigen Renaissance-Rathauses trifft mitten ins Herz. Doch unüberhörbar dringt ein Hämmern und Bohren aus den Räumen. Grimmas Erwachen.