Enge Gassen, süße Legende

Dolceaqua in Ligurien ist berühmt wegen seiner gedrungenen Architektur und der Geschichte eines Liebespaars, dem sogar ein Gebäck in Form von Penis und Vagina gewidmet ist. Die schmale Brücke über den Fluss Nervia gilt als Meisterwerk

Eingezwängt zwischen Burgruine und Nervia-Fluss wuchs der Ort in die Höhe

von JOHANNES WINTER

Die Legende spielt in Dolceacqua, und sie ist so schön, dass sie auch wahr sein könnte: Es waren einmal zwei Verliebte, Lucrezia und Basso, beide rank und schlank und innig einander zugetan. Sie hatten sich versprochen und waren fest entschlossen, miteinander durchs Leben zu gehen.

Davor aber stand der Burgherr, einer aus der Dynastie der Doria, der über das Land an der ligurischen Küste herrschte. Wie zu jenen Zeiten üblich, als noch der kleinste Despot nicht nur die Hand- und Spanndienste seiner Hörigen, sondern auch seine weiblichen Untertanen selbst beanspruchte, hatte ihm jede Jungfrau, bevor sie sich ihrem Liebsten hingeben durfte, zu Willen zu sein. Ein Akt, den Imperiale Doria auch diesmal begierig war zu vollziehen. Doch er hatte nicht mit Lukrezia gerechnet, die für ihre Würde sogar ihr Leben einzusetzen bereit war. Der Zwingherr sollte sie ihr jedenfalls nicht nehmen. Lukrezia pfiff auf das ius primae noctis und verweigerte sich dem Ansinnen. Ihr ganzes Sinnen und Trachten war auf die Brautnacht mit Basso gerichtet. Mit ihm war sie sich einig, koste es, was es wolle, nein zu sagen.

Das erzürnte den Burgherrn, der sie als seine Leibeigene betrachtete. Er bestand darauf, sein Recht durchsetzen. Um ihren Willen zu brechen, ließ er die Unbotmäßige ins Verlies werfen und in Ketten legen. Entweder sie fügte sich oder sie würde darin schmachten bis zum Hungertod. Basso aber schwor sich, seine Liebste zu retten. Versteckt in der Satteltasche eines Maultiers, das eine Ladung Heu in die Burg zu schleppen hatte, gelangte er ins Gemach des Doria, einen Dolch im Gewande. Doch er tötete ihn nicht. Die blitzende Waffe in der Hand, trat er dem Tyrannen gegenüber und zwang ihn, wenn ihm sein Leben lieb sei, Lukrezia herauszugeben. Dann eilte er in den Kerker und befreite sie von ihren Ketten.

Vorbei war es seitdem mit dem „Recht der ersten Nacht“, kein Mädchen im Dorf war mehr bedroht. So schließt Pietro seine Rede. Einen Hammer in der Hand, die Haare zum Zopf gebunden, hockt er in einem der düsteren Innenhöfe am Fuß der Burg, nur ein Handtuch breit blinkt zwischen den Giebeln das Viereck des blauen Himmels. Im uralten Viertel hockt er und könnte, wie er die Geschichte vom Aufstand der beiden heldenhaften Vorfahren erzählt, ein Bruder des legendären Basso sein.

Der Handwerker Pietro klopft Verputz von den Wänden, die sechs Stockwerke hoch ragen. Hier, im Labyrinth der Gassen, ist er zu Hause, wo die Sonne nur in die oberen Fenster scheint. Dort hängt die Wäsche am Draht, dort leben die Menschen. Hier unten regiert der Schatten. Aber wohnlich soll es schon sein.

Damals, vor 500 Jahren, zu Zeiten der Doria-Dynastie, war offenbar mehr Platz zum Hausbau nicht. Deshalb wuchs der Ort, eingezwängt zwischen Burgruine und Nervia-Fluss, in die Höhe, von wo die Festung das Tal über der Biegung des Flusses beherrschte. Einst verlief hier ein Handelsweg, der die Küste mit dem Hinterland verband. Ihn zu kontrollieren war das Bestreben der einheimischen Clans, weswegen sie in ständiger Fehde miteinander lagen, die Doria-Familie mit den Grimaldi, deren Nachkommen das Fürstentum Monaco gleich hinter der französischen Grenze ihr Eigen nennen, einst ein Seeräubernest, nun Stoff für Seifenopern.

Noch heute verströmen die grauen Gemäuer des Viertels so viel mittelalterliche Aura, als sei jene harte Herrschaft hier zu Stein geworden – so deutlich ist die strenge Ordnung von oben und unten zu spüren. Kafkas Schlossszenerie lässt grüßen. Gleichwohl, in den schmalen Gassen, die einer Filmkulisse aus Macht und Unterwerfung dienlich wären, lebt es sich, wie Pietro bestätigt, mehr recht als schlecht. Wohl ist die einstige Krone der Stadt, das Kastell der Doria, längst zur hohlen Ruine geworden. Auch Mulis gibt es nicht mehr, und manchmal trauert er ihnen nach, denn wenigstens die Einkaufstüten am Wochenende zu schleppen, dazu könnte man sie schon noch gebrauchen.

Selbst die beliebten „Ape“, die knatternden Motorkarren auf drei Rädern – sozusagen eine Muli-Stärke – kommen bloß in der Via Castello zu ihrem Recht. Anderthalb Meter ist die Hauptverbindung durch das Häusergewirr hoch zum Schloss gerade breit. Sie als Straße zu bezeichnen wäre arg übertrieben. Nicht zufällig haben sich hier Läden und Werkstätten angesiedelt, auch Ateliers und Galerien, die den Fremden jeden Winkel der Burgruine in Öl oder Pastell feilbieten. „Malerisch“ heißen solche Motive in der Sprache der Postkarten.

Es sind Stützbogen und Arkaden, unter denen wir uns bewegen, Grotten und Tunnel; wir entdecken in einem Winkel einen steinernen Sitz fürs private Bedürfnis, spüren die Stille der Stiegen und Grüfte, gelangen an verfallene Pforten, hinter denen einst Lukrezia und Basso gelebt haben mögen. So scheu macht die Düsternis, dass wir ins Flüstern verfallen.

Unverhofft treten wir aus dem Dunkel, um vor einer Brücke zu stehen. Die Brücke über den Nervia ist ein Meisterwerk. In einem eleganten Bogen spannt sie sich ganze 33 Meter von Ufer zu Ufer. Schon in der Frühzeit des modernen Reisens war es, als der Maler Claude Monet sie zum Objekt seiner Kunst machte. Auch unser Cicerone Pietro – Liebhaber der Brücke, der er ist – zitiert Monet, für die Details aber empfiehlt er seine Freundin Antonia im Touristenbüro jenseits des Flusses.

Wir betreten den „Ponte Vecchio“, wie der Bilderbuchbogen von Dolceacqua heißt, gleich dem berühmten Bauwerk in Florenz. Auf seinem Scheitel stehen wir, von Sonne überflutet, tief unten das Rinnsal des Nervia, blicken zurück und entdecken einen bunten Fleck, der den Frieden beschwört. Es ist die Regenbogenfahne, die an einer der grauen Mauern flattert. „Pace“ lautet ihre Botschaft, sie ist eine Stimme gegen den jüngsten der Irakkriege. Seit er Vergangenheit ist, weht sie einsam. Ein anderer farbiger Wimpel hat das Kommando übernommen. Grelle, rotgelbe Tücher wehen an mancher Wäscheleine und sprechen eine deutlichere Sprache. Wohl kommen sie ohne Worte aus, aber ihr Signal ist klar: Im Fahnenwettstreit hat eine Autofirma den Sieg davongetragen. Ferrari, das nationale Symbol, ist es. Dem Formel-Eins-Champion Michael Schumacher wird gehuldigt. Kein Zweifel, es gibt vielerlei Helden, damals wie heute.

Uns aber lassen Lukrezia und Basso nicht los. Wir wollen wissen, ob es im Alltag des Dorfs noch Spuren des mutigen Liebespaars gibt. Bei Antonia sind wir an der richtigen Adresse. Als habe sie auf uns gewartet, führt sie uns auf die Piazza, wo die Kinder die schwarze Skulptur einer wenig bekleideten Ziegenhirtin samt ihrem Hornvieh entdecken, zum Klettern wie geeignet. Über Fluss und Brücke auf die hoch ragenden Türme der Burgruine deutend, gibt sie Auskunft über Sitten und Gebräuche.

Mitten im Sommer, wenn ganz Italien den „Ferragosto“ feiert, lässt auch Dolceacqua die Puppen tanzen. Mit viel Musik begeht der Ort seine „Sagra della Michetta“, die „Brötchen-Kirmes“. Antonia hat Michette kommen lassen, Hefeteilchen aus der Backstube um die Ecke, die unversehens die Blicke auf sich ziehen. Nur die Kinder fallen arglos darüber her, während die Erwachsenen innehalten, die gezuckerte Fracht kichernd betrachten und sich einig sind: Was sie zum Munde führen, sind hintersinnige Imitate. An ihnen erweist sich, wie gehaltvoll Geschlechtsteile sein können, wenn sie als Backwerk serviert werden, das mal männliche, mal weibliche Züge trägt.

Wie mit einem Zwinkern erinnern die populären Brioches, die da vor uns liegen, an den Aufstand von Lukrezia und Basso. Denn, so der Kern der Legende, sie beide waren es, die beherzt der Willkür des Herrschers und damit auch seinem zügellosen Fortpflanzungstrieb widerstanden. Ihr Mut ist den Leuten im Hinterland von San Remo noch immer ein Fest wert, alle Jahre wieder. Nicht zuletzt, um die süßen Michette zu verspeisen.