Versager, Loslasser, Aufbrecher

Ironischer hüpfen, schöner wohnen: Zum Auftakt der „Tanztage“ in den Sophiensælen gab es Stücke des früheren Sasha-Waltz-Tänzers Hans-Werner Klohe, von Florian und Graciella Bilbao und der australischen „Splinter Group“

Am Ende ist es Rock ’n’ Roll: Das Premierenpublikum der Tanztage dankt mit großem Applaus, mit Schreien und Pfiffen. Die drei Auftaktstücke haben extrem gut gefallen. Und: Hans-Werner Klohe, der Letzte im Programm, hat es geschafft. Er verkörpert an diesem Abend die Illusion der Schwerelosigkeit.

Auf seiner zum Laufsteg umgebauten Bühne (Bühnenbild York Landgraf) bewegt sich der frühere Sasha-Waltz-Tänzer präzise und geschmeidig wie ein Panther und mit schlafwandlerischer Leichtigkeit. Kein Model mit der richtigen Ladung Koks im Blut bekäme das hin. Klohe geht es in seinem Solo „narziss 0.4“ auch nicht um Trikotagen. Sein Bühnen-Ich ist hin- und hergerissen zwischen dem Streben nach Vollkommenheit und dem Erwartungsdruck der Außenwelt. In der von Eitelkeit und Versagensangst geprägten Situation läuft es zur höchsten Form auf, um im nächsten Moment in sich zusammenzusacken.

Die Arbeiten der Videokünstlerin chérie zeigen den vielfach multiplizierten Protagonisten. Parallel zum Tanzgeschehen auf dem Catwalk laufen die Bilder am hinteren Ende über zwei Leinwände. Im Vordergrund robbt Hans-Werner Klohe über das mit weißem Gummi bespannte Holz, löst Bewegungen in ständig wechselnden Sequenzen auf und arbeitet sich auf der abgezirkelten Strecke Zentimeter für Zentimeter voran.

Vom „Loslassen“ träumen Florian und Graciella Bilbao im zweiten Stück des Abends. Der in Berlin lebende Franzose überzeugte bei den letzten Tanztagen mit „Ghost letters 3“, einem vom Tod erzählenden, tief berührenden Gruppenstück, das er in den Räumen eines leer stehenden Gutshauses in Brandenburg inszenierte. Sein neues Stück hingegen macht wenig Angebote auf der Suche nach einer greifbaren Idee. Der 24-Jährige steht da, eingezwängt in Glitzerjeans, und macht Armbewegungen in der Art eines Ballett-Eleven. Seine Gattin Graciella trägt derweil einen Spiegel quer über die Bühne.

Bilbao reißt sich ganz plötzlich die Jeans von den muskulösen Beinen und beginnt zu tanzen. Seine Beinarbeit ist wuchtig und genau. Zu dem, was seine Bühnenpartnerin tut, einen englischen Text aufsagen, ironisch hüpfen, steht sein virtuoser Tanzpart leider unverbunden da. Im Programmheft kann man eine „Autobiografie in fünf Akten“ nachlesen, in der jemand immer wieder in ein und dasselbe Loch fällt. Eines Tages geht er einfach um das Loch herum. Und – ist dann wohl frei. Oder nicht?

Mit einer weniger geheimnisvollen, doch amüsanten Performance beglückt die „Splinter Group“ aus Australien als Opener des Festivals. In ihrem Stück „Lawn – a sub urban myth“ leisten Vincent Crowley, Grayson Millwood und Gavin Webber ihren Hardcore-Beitrag zum Thema „Schöner wohnen“.

Sie zeigen, wie es ist „in einer kleinen Einzimmerwohnung hoch über den schneebedeckten Straßen von Berlin“ zu leben. Gefährlich, wenn man ein junger Mann mit Schlafnestfrisur und multipler Persönlichkeitsstörung ist. Dieser junge Mann in dreifacher Ausführung sammelt an seinem Arm emporkrabbelnde Schaben in der Größe von Matchbox-Autos ein und verschließt sie in der Schublade seines Tisches. Er tackert Tapeten an die Wand, oder er holt eine Jacke aus dem Schrank.

Die autistische Idylle bricht jedoch unvermittelt auf: Und da krümmt sich einer am Boden, mit TBC-Husten. Oder er wird vom Nachbarn mit Frischhaltefolie gefesselt und eingewickelt wie ein Stück Fleisch. An der Wand kommt dann auch noch das Böse zum Vorschein: eine Fototapete! Mit Palmen drauf!

Die Tanztage begannen unterhaltsam und aufregend. Hoffentlich gestaltet sich der Rest des Festivals ähnlich. JANA SITTNICK

Bis 15. Januar, Sophiensæle, Sophienstraße 18, Mitte