berliner szenen Prinzip Trotz

Sitzkampf im ICE

Am Ostbahnhof steigt ein junger Mann in den ICE 858 Richtung Köln und sucht sich einen Platz im Großraumabteil. Am Zoo steigt neben wenigen anderen auch ein älterer Mann ein, der einen beigefarbenen Trenchcoat trägt und dem es sichtlich schwer fällt, seinen schwarzen Rollkoffer in dem schmalen Gang hinter sich herzuziehen. Irgendwann bleibt er stehen, holt er einen Umschlag hervor und überprüft die Nummern der Sitze.

„Entschuldigen Sie“, sagt er zu dem jungen Mann, „das ist mein Platz. Ich habe reserviert“, und weist mit dem Papier auf die Anzeige an der Gepäckablage. „Warum setzen Sie sich nicht woanders hin? Ist doch fast alles frei“, sagt der junge Mann. „Aber ich habe für diesen Platz bezahlt, Wagen 32, Sitz 76. Sehen Sie?“, sagt der Ältere und hält ihm sein Ticket hin, „hier steht’s.“

„Ich glaub’s ja, aber ich begreife trotzdem nicht, warum Sie sich nicht einfach irgendwo anders hinsetzen können.“

„Es geht ums Prinzip, versteh’n Sie.“

„Was für ein schwachsinniges Prinzip soll das sein?“ Das Wort „schwachsinnig“ löst bei dem älteren Stehenden offenbar eine Kettenreaktion verschiedener negativer Assoziationen aus, denn den nächsten Satz sagt er wesentlich lauter: „Ich habe diesen Platz gewissermaßen von der Bahn gemietet, und jetzt möchte ich ihn auch einnehmen.“

„Und ich“, sagt der Jüngere, „bleibe aus Prinzip hier sitzen.“

„Was soll das denn für ein Prinzip sein?“

„Trotz.“ Das Prinzip Trotz scheint wirkungsvoller zu sein als das des alten Mannes. Jedenfalls schaut er den jüngeren Sitzenden noch eine Weile ungläubig an, ohne etwas zu sagen, bevor er seinen Rollkoffer nimmt und sich in den nächsten Wagen verzieht. JAN BRANDT