Fortschritt durch Integration

In der arabischen Politik dominieren noch diktatorische Regime. Aber die Reformdebatte in den Zivilgesellschaften zeigt: Islam und liberale Demokratie sind vereinbar

Je länger der Reformdruck anhält, desto weniger können ihn die arabischen Staaten ignorieren

Die Studenten in Kairo sind skeptisch. Egal ob sie sich gerade für ihr erstes Universitätssemester einschreiben oder bereits ihren Abschluss haben und sich zur Promotion anmelden wollen – sie berurteilen die politische Lage Ägyptens und die der gesamten Region überraschend eindeutig: als aussichtslos.

Es ist beinahe zwecklos, mit ihnen über demokratische Verbesserungen in ihrer Heimat zu diskutieren. Dabei gibt es durchaus positive Ansätze – auf der Ebene der Zivilgesellschaft, die zunehmend vielfältiger wird, oder bezüglich der inneren Reform der regierenden National-Demokratischen Partei (NDP), die nun die Werte der Transparenz und des Pluralismus besonders propagiert. Solche Argumente kontern sie durchweg mit dem Einwand, dass das Regime gerade den Sohn des Präsidenten, Gamal Mubarak, als Nachfolger profiliere, ohne das Volk zu konsultieren, geschweige denn wählen zu lassen. Darin sehen sie einen Rückfall in despotische vorrepublikanische Zeiten.

Ihre Aufmerksamkeit vom Staat hin zum allgemeinen gesellschaftlichen Kontext zu lenken scheint einfach unmöglich zu sein. Im Grunde kann man ihnen deshalb keinen Vorwurf machen. Denn der ägyptische Staat ist allgegenwärtig. Im universitären Alltag nehmen die Studenten vor allem seine hässlichen, autoritären Symbole wahr: Spezialtruppen des Innenministeriums, die ihnen antiwestliche oder proirakische Demonstrationen untersagen. Redet man mit ihnen über die Lage im arabischen Raum, so vollziehen sie in atemberaubender Geschwindigkeit eine radikale Wende ihrer Negativliste von innen nach außen und beklagen die amerikanische Einmischung in „unsere“ Angelegenheiten.

Die Tatsache, dass der Herrscher von Bagdad zu den brutalsten in der Region gehört und dass die Amerikaner, wenn auch nur halbherzig, die Notwendigkeit demokratischer Reformen im Irak hervorheben, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Sie glauben nicht an den amerikanischen Reformwillen und sehen in Saddam einen Helden, der sich traut, der Supermacht Paroli zu bieten. Es wird oft ein tragisches Szenario skizziert, in dem die arabischen Massen von hinterlistigen internen und externen Mächten um ihre Zukunft betrogen werden. Das ist bedrückend, da es die Verzagtheit gerade der jüngeren Generation offenbart. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Wahrnehmungsmuster auch unter den Massen außerordentlich verbreitet sind.

Dennoch lässt sich die politische Lage im arabischen Raum positiver deuten, wenn man sich von der Fixierung auf den Staat oder die westliche Politik ein wenig befreit. In Ländern wie Marokko, Jordanien, Bahrain und nicht zuletzt Ägypten haben sich in den vergangenen Jahren funktionierende Zivilgesellschaften etabliert, deren Bewegungsräume sich trotz einiger staatlicher Einschränkungen ausweiten: Die Beteiligung oppositioneller Parteien an regierenden Koalitionen in Marokko und die letzten freien Wahlen in Bahrain stehen hierbei als exemplarische Beispiele; die effektive Arbeit zahlreicher Nichtregierungsorganisationen in den zentralen Bereichen Bildung, Menschenrechte und Stellung der Frau belegt in Jordanien und Ägypten die Bedeutsamkeit kleiner Ansätze außerhalb der offiziellen Politiksphäre und ihrer Zwänge. Die sichtbare Vielfalt der veröffentlichten Meinung in der Presse lässt selbst in konservativen Ländern wie dem Königreich Saudi-Arabien auf allmählich einsetzende demokratische Veränderungen hoffen.

Zu dieser Entwicklung tragen nicht ausschließlich säkulare Kräfte oder Intellektuelle bei. Auch in islamistischen Kreisen kristallisieren sich seit einigen Jahren neue Tendenzen heraus. Aus der Erfahrung im Umgang mit der autoritären staatlichen Macht sind innerhalb einiger islamistischer Gruppierungen allmählich parlamentarische Demokratie und Menschenrechte zum Kern ihrer politischen Zielvorstellungen herangereift. Ältere Debatten über die Vereinbarkeit von Islam und liberaler Demokratie aufgrund ihres westlichen Ursprungs wurden zumindest zum Teil ad acta gelegt.

Ein neues Handlungsfeld eröffnet sich durch die (Wieder-) Entdeckung der gesellschaftlichen Sphäre. Dort, wo den religiösen Kräften die große Politik vorenthalten bleibt, betätigen sich ihre moderaten Vertreter etwa durch die Gründung moderner islamischer Wohlfahrtseinrichtungen zumindest wirtschaftlich oder sozial. Zudem haben in der Politik einige radikale Bewegungen der Gewalt abgeschworen, so etwa die ägyptische Dschihad-Gruppe. In Jordanien und Marokko haben es islamische Parteien geschafft, sich durch parlamentarische Wahlen in der Politik zu etablieren. Ihre erkennbare Reformorientierung bringt ihnen breite gesellschaftliche Anerkennung. Die Zeichen stehen also in vielen Ländern auf Befriedung und Integration der gemäßigten islamistischen Kräfte, obwohl die Ereignisse vom 11. September 2001 und die fortdauernden Terroranschläge des Al-Qaida-Netzwerks um Ussama Bin Laden zweifelsohne davon zeugen, dass das religiös motivierte Gewaltpotenzial im arabischen Raum weiterhin vorhanden ist.

Gut ist in jedem Fall, wenn die Amerikaner immerhin mit ihrer jetzigen Politik, vor allem mit der von Außenminister Colin Powell angekündigten Partnerschaftsinitiative für den Nahen Osten (Middle East Partnership Initiative), die reformorientierten Ansätze in der Region fördern wollen. Diese Initiative kann man nicht einfach mit dem Argument abkanzlen, sie missbrauche lediglich die magischen Wörter „Demokratie“ und „Reform“ für eigene politische Zwecke – selbst wenn die aktuelle Eskalation um den Irak und die westlichen Doppelstandards durchaus kritikwürdig sind. Letztlich zwingt die Haltung der US-Regierung die herrschenden Regime in Nahost dazu, Demokratisierungsversuche zuzulassen oder ihnen wenigstens nicht grundsätzlich im Wege zu stehen.

Auch einige islamistische Kreise wollen langfristig eine parlamentarische Demokratie

Die aktuelle Reformdiskussion innerhalb der ägyptischen NDP beweist, wie erfolgreich der externe Druck sein kann, um politische Transformationen einzuleiten. Zum einen werden die internen Strukturen der Partei nach amerikanischem Vorbild reformiert bis hin zur Einführung des so genannten Systems der Vorwahlen, in deren Rahmen die lokalen Kandidaten von Mitgliedern gewählt werden. Zum anderen wird eine leidenschaftliche Debatte über die Notwendigkeit eines starken Parlaments geführt, vor dem die Regierung politisch verantwortlich sein soll. Die Vorbereitung des Generationswechsels an der Spitze der staatlichen Macht geht mit der Absicht einher, die im Jahre 2005 anstehenden Präsidentschaftswahlen zum ersten Mal wahrhaftig demokratisch zu gestalten.

Je länger der Reformdruck intern und extern anhält, desto weniger werden die Staaten in der arabischen Welt in der Lage sein, ihn zu ignorieren. Im Gegensatz zu vielen ägyptischen Studenten kann man da sehr zuversichtlich sein. AMR HAMZAWY