Der Schritt aus dem Regenwald

AUS NAMIKUMBI ILONA EVELEENS

Mimpangu läuft barfuß über den glatten Schlamm. Mühelos eilt der 1,45 Meter kleine sehnige Mann am Ufer des Lobé-Flusses entlang, in der Hand seinen Speer, der ihn um 20 Zentimeter überragt. „Damit habe ich Elefanten getötet“, erzählt der Pygmäe stolz. „Aber meistens essen wir Gazellen, Stachelschweine oder Affen. Die Elefantenjagd ist schwere Arbeit.“

Mimpangu ist einer der Clanführer der Bagyeli-Pygmäen, der ursprünglichen Bewohner von Kamerun. Er hat wie so viele Angehörige seines Volkes das Nomadenleben im Regenwald aufgegeben und sich in Namikumbi niedergelassen, am Rande des südwestkamerunischen Waldes von Campo Ma’an. Trotz seiner neuen Sesshaftigkeit hat er nicht alle Traditionen aufgegeben. Wie früher, als die Pygmäen als Jäger und Sammler tief im Regenwald lebten, jagt Mimpangu auch heute noch Wild fürs Abendessen, seine Frau holt Gemüse und Wurzeln aus dem Wald. Wenn die beiden krank sind, helfen sie sich – traditionell – mit wilden Arzneipflanzen. Gegen nahezu jede Krankheit kennen die Pygmäen Hilfe aus der Natur.

Aber um Mimpangus Haus scharren Hühner wie bei jedem sesshaften Bauern, und eine seiner Töchter bekommt gerade Kunststoff-Strähnen ins Haar geflochten. Seine traditionelle Pygmäen-Existenz – ohne Eigentum, außer den nötigsten Gebrauchsgegenständen – ist endgültig vorbei. „Im Wald wusste ich nicht mehr, wo ich noch sein durfte und wo nicht“, erzählt Mimpangu. „Hier am Rande des Waldes spüre ich noch immer eine Verbindung zu unserem alten Leben. Aber es wird niemals mehr so wie früher.“ Sein Gesicht hat unzählige Falten. Wie alt er ist, weiß er nicht. Fünfzig? Hundert? „Ich weiß nur, dass die meisten meiner sechs Kinder auch schon Kinder haben.“

Reservat wird Nationalpark

Campo Ma’an war seit 1932 ein Urwaldreservat, wo ein wenig Tropenholz gerodet wurde, wo Flora und Fauna ein wenig geschützt waren und wo die Waldbewohner, die Bagyeli, ungestört ihr althergebrachtes Leben führen konnten. Vor vier Jahren wurde das Reservat zum Nationalpark. Das war die Entschädigung für die Zerstörung von Campo Ma’an durch den Bau der Tschad-Kamerun-Ölpipeline, die Öl aus dem Tschad quer durch Kamerun an den Atlantik transportiert (siehe Karte). Die Idee für den Park kam von der Weltbank, die für die ökologischen und sozialen Folgen der Ölförderung im Tschad und des Pipelinebaus in Kamerun zuständig ist.

Doch der Nationalpark-Status bedeutet auch, dass Flora und Fauna strikt geschützt sind, viel strikter als in einem Reservat. In einem solchen Konzept haben Pygmäen keinen Platz mehr. Das Gebiet, in dem die Bagyeli noch jagen und sammeln dürfen, wurde so stark eingeschränkt, dass Nahrungsmangel entstand. Mehr und mehr Pygmäen gaben ihre Nomadenexistenz auf und ließen sich in Dörfern nieder. Die Entwicklungshelfer sind damit zufrieden, weil dadurch mehr Pygmäenkinder in die Schule gehen; die Umweltschutzorganisationen sind auch zufrieden, weil weniger gejagt wird. Und kaum jemand bedauert das Aussterben einer uralten kulturellen Erbschaft und der unübertroffenen Kenntnis vom Regenwald, die die Pygmäen besitzen.

Namikumbi liegt eine halbe Stunde stromaufwärts von Kribi, einem Badeort am Atlantik. Viele Touristen gibt es dort zwar nicht, aber in letzter Zeit hat sich eine beträchtliche Gruppe von Ausländern niedergelassen. Es sind die Arbeiter der US-amerikanischen Ölgesellschaft Exxon und ihre Familien. Bei Kribi kommt die Ölpipeline aus Tschad nämlich wieder an die Oberfläche, um gleich darauf im Meer unterzutauchen bis zu einer Plattform 20 Kilometer vor der Küste. Dort wird das Öl in Tankschiffe gepumpt.

Mimpangu hat sein Dorf Namikumbi als Touristenziel angeboten. Einige Fischer in Kribi haben die Erlaubnis, Fremde ins malerische Pygmäendorf zu bringen. Mimpangu empfängt sie herzlich und lässt sie sich in Namikumbi umschauen – alle sechs Häuser des Dorfes. Er braucht nicht zu fragen: Jeder Gast steckt dem alten Pygmäen beim Abschied etwas Geld zu.

Luciri, Mimpangus ältestem Sohn, ist deutlich anzusehen, was er von den Besuchen der Weißen hält. Und er macht kein Geheimnis daraus. „Ich gehe lieber auf die Jagd, als von euch angeglotzt zu werden“, schimpft er. „Ihr Weißen beeinflusst unser Leben. Ich mag das nicht.“

Aber das Leben der Pygmäen wird sich unwiderruflich ändern, das ist die Überzeugung von Joseph Ngbwa, dem Bagyeli-Lehrer. Bei einem Bier in einer Kneipe in Kribi zeigt er sich traurig über die Lage seines Volkes, ist aber zugleich Realist. „Jeder will uns aus dem Wald weghaben, wir können dagegen wenig tun“, sagt er. Doch hätten die Bagyeli den Prozess selbst beschleunigt. „Einige Pygmäen haben von Menschen außerhalb des Waldes Gewehre bekommen, um in deren Auftrag Wild zu jagen. Das ist gegen unsere Tradition. Wir jagen mit Speeren und töten nur, was wir brauchen. Mit dem Gewehr aber kann man an einem Tag sehr viele Tiere töten.“

Ein großer Teil des Südens von Kamerun ist mit Regenwald bedeckt, einer scheinbar undurchdringlichen grünen Verschlingung von Bäumen, Sträuchern, Lianen und unzähligen Pflanzenarten. Die Gegend ist immer feucht und finster, und es ist Laien kaum möglich, Tiere aufzuspüren. Aber die Pymäen sind meisterhafte Jäger. Sie lesen den Wald wie ein offenes Buch, sie kennen ihn besser als alle anderen Bewohner Zentralafrikas.

Die meisten Bantu-Völker, die am Rande des Regenwaldes leben, wissen das. Und sie wissen, dass es in den Städten eine große Nachfrage für Wildfleisch gibt, das gutes Geld bringt. Sie sind es, die den Pygmäen Gewehre geben und ihnen beibringen, wie man damit umgeht. Die Pygmäen leisten gute Arbeit und bekommen als Lohn ein bisschen Tabak, Bier, ein paar Münzen. Dass sie damit den Argumenten der Umweltschützer Vorschub leisten, die die Pygmäen aus dem Wald weghaben wollen, wissen sie nicht.

Im Regenwald sterben

So stehen viele Pygmäen noch in der uralten Tradition des Regenwaldes; andererseits lernen sie, mit ihrem Wissen die Natur auszubeuten und gegen Geld zu verkaufen. Joseph Ngbwa, der Lehrer, versucht, seinem Volk den Übergang von der grünen Wildnis zur Welt von Computern und Autos zu erklären. Einfach ist das nicht. Pygmäen, die den Schritt aus dem Wald heraus in die Moderne wagen, müssen Geld verdienen, um Dinge wie Wasser und Essen zu kaufen. Aber Berufe haben sie nie gelernt. Auch von Landwirtschaft haben sie keine Ahnung – zumal sie als ehemalige Nomaden gar kein Land besitzen. Auf den Wald, ihre Heimat, haben sie keinen Besitzanspruch.

Für sich und seine Familie hat Joseph Ngbwa einen Kompromiss gefunden: „Ich schicke meine Kinder schon lange in Schulen in Dörfer außerhalb von Campo Ma’an. Sie kommen nur heim, wenn die Schultüren geschlossen sind. Das Waldleben ist dann ein Ferienerlebnis für sie.“ Während der Schulferien ziehen er und seine Familie im Regenwald umher – wie früher. Aber sie dürfen den Kalender nicht vergessen. Wenn die Ferien vorbei sind, fängt das moderne Leben wieder an.

Für sich selbst hat Joseph Ngbwa nur einen Wunsch. „Ich hoffe, dass Umweltschützer und Entwicklungshelfer uns alten Männern gestatten, im Wald zu sterben, mit unserem Speer in der Hand. So wie unsere Vorfahren.“ Aber die Waldfläche in Kamerun wird immer kleiner. Der Handel mit Tropenholz ist für das Land die zweitwichtigste Einnahmequelle beim Export, nach Erdöl. Auf den großen Straßen im Süden Kameruns fahren täglich dutzende Lastwagen mit langen, dicken Baumstämmen oder bereits zugeschnittenen Brettern. Das Holz geht in die Hafenstadt Duala, 60 Prozent von dort aus nach Europa. Deutschland steht an sechster Stelle der Abnehmer, mit etwas mehr als 71.000 Kubikmetern im Jahr. Greenpeace schätzt, dass die Hälfte von Kameruns Holz illegal gehandelt wird. Auf der Korruptionsrangliste von Transparency International steht das Land auf Platz neun.

Schmuggelgut Tropenholz

Die EU hat erst kürzlich – zeitgleich mit einer Konferenz afrikanischer Tropenholzproduzenten in Kameruns Hauptstadt Jaunde – einen Aktionsplan angekündigt, um die Korruption in der internationalen Holzindustrie zu bekämpfen. Der Belgier Filip Verbelen, Waldspezialist von Greenpeace, war bei der Konferenz: „Jeder weiß Bescheid über illegale Praktiken, aber sie werden nicht geahndet. Das ist schade, denn die Gewinne in der Holzindustrie könnten für den Kampf gegen die Armut genutzt werden.“

Seiner Meinung nach verdient Holz größeres Interesse der internationalen Gemeinschaft und sollte aufgenommen werden in die Reihe der so genannten Konfliktrohstoffe wie Diamanten, Öl und Coltan. Denn der Holzhandel finanziert auch bewaffnete Konflikte, zum Beispiel im Kongo oder in Liberia. „Tropisches Holz ist sehr einfach wirtschaftlich zu nutzen“, erklärt Verbelen. „Mit relativ niedrigen Investitionen können große Gewinne gemacht werden. Darum ist es so ein beliebtes Produkt, um Kriege zu finanzieren.“

Die 40.000 Pygmäen, die noch in den Regenwäldern leben, haben keine Ahnung, wie kostbar ihr natürlicher Lebensraum für die Weltwirtschaft ist. Für sie ist der Wald kein Handelsgut, sondern Quelle von Brennholz oder Medizin, in ihm können sie sich verstecken, wenn sie Wild jagen. Selbst wenn der Regenwald in den Nationalparks erhalten bleibt – die Pygmäen Kameruns und ihr naturverbundenes Leben werden bald der Vergangenheit angehören.