berliner szenen Mitleid mit dem Senior

Im Familienbetrieb

Ich arbeite jetzt in einem Familienbetrieb. Viele Angestellte sind hier miteinander verwandt, was nicht unbedingt von Vorteil ist. Und es gibt ein Relikt aus der Vergangenheit, vor dem man mich gewarnt hat: den Senior. Früher war er hier der Chef, aber jetzt hat er seine Gedanken nicht mehr alle beisammen und kommt gelegentlich zu Besuch. Boshaft soll er sein und fies zu Frauen, hieß es. Zu einem Azubi-Mädchen soll er mal gesagt haben: So wie du aussiehst, muss dein Freund nachts das Licht ausmachen.

Ich habe ihn dann irgendwann kennengelernt. Er platzte in mein Büro und fragte freundlich: „Wer bist du denn?“ Er duzt alle, das hat er wohl immer getan. Er wartete aber nicht auf die Antwort, sondern redete etwas, das ich gar nicht verstand. Irgendwann begriff ich, er suchte Herrn Winkler aus der Buchhaltung. Er fragte mich: „Fräulein Sowieso, hast du einen Winkler in der Schublade?“ Dann zog er die Lade auf, um nachzusehen, ob ein Winkler darin lag. Allmählich bekam ich Mitleid mit ihm, weil er so verwirrt war – wie er sich auf seinen Stock stützte und durchs Büro humpelte. Aber in meinem Hinterkopf waren noch die Warnungen vor ihm.

Nun erzählte er, er wolle heute unbedingt nach Charlottenburg. Weil er früher mit Binnenschiffen auf der Spree zu tun hatte, geistern Schiffe noch immer durch sein Hirn, und er fragte mich: „Du bist bestimmt mit dem Schiff da. Können wir nachher mit deinem Schiff nach Charlottenburg fahren?“ Ich sagte ihm, ich habe seine Frau heute schon gesehen und sie habe gesagt, sie würde ihn fahren. Obwohl er vorher so verwirrt gewesen war, entgegnete er jetzt deutlich und böse: „Was meine Frau sagt, ist nicht maßgeblich.“ Da hatte sich das mit meinem Mitleid erledigt. ANNETTE SCHWARZ