Kuratoren der Angst

AUS PHNOM PENH KLEMENS LUDWIG

Siseroths Kindheit endete von einem Tag auf den anderen. Es war im April 1975, sie war gerade zwölf Jahre alt und in Kambodscha hatten die Roten Khmer die Macht übernommen. Ungeachtet des Bürgerkriegs hatte sie bis dahin ein recht behütetes Leben geführt. Ihr Vater gehörte als Lehrer zu den Gebildeten und es war ihm wichtig, dass auch seine Tochter eine gute Ausbildung erhielt. Doch plötzlich wurde alles anders. „Die Roten Khmer betrachteten uns als Parasiten. Lehrer zu sein war das Schlimmste für sie, schlimmer noch als Soldat des alten Regimes, denn Lehrer standen für Bildung“, erklärt Siseroth.

„Nur wer ungebildet ist, ist formbar“, lautete die Ideologie der Steinzeitkommunisten. Selten war Bildung so verpönt wie im „Demokratischen Kampuchea“ unter Pol Pot. In den Lagern der Roten Khmer gab es sogar den gefürchteten Ausdruck „in die Schule schicken“. Wem das widerfuhr, der verschwand für immer. Auch Siseroths Familie wurde auseineinder gerissen und in die westlichen Provinzen vertrieben. „Ich verstand zunächst gar nicht, was mit mir geschah. Plötzlich fand ich mich in einer Umgebung und unter Menschen wieder, die ich nie gesehen hatte.“

Doch sie lernte bald, worauf es ankam, um zu überleben: Stillhalten und Schuften. „Während der Regenzeit spannten sie uns auf den Reisfeldern wie Ochsen vor die Pflüge, denn Maschinen waren im eigenständigen Sozialismus nicht erlaubt. Auch Raupen und Bagger gab es nicht“, erzählt Siseroth. Während der Trockenzeit bewegten sie die Erde mit bloßen Händen, um Straßen und Kanäle zu bauen. „Das ging von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, sieben Tage in der Woche, fast vier Jahre lang.“ Zu der Schinderei kam die schlechte Ernährung. Meist gab es Reissuppe. „Wir waren häufig so hungrig, dass wir Insekten gegessen haben, aber selbst dabei durften wir uns nicht erwischen lassen.“ Mutter und Tochter haben die Tortur überlebt, Vater und Bruder nicht.

Terror Tag für Tag

Aus dem Mädchen mit der geraubten Kindheit ist eine groß gewachsene, attraktive Frau geworden, doch die Spuren der Vergangenheit sind nicht beseitigt. Trauer umgibt ihre Mundwinkel, die Augen blicken ernst, sie redet langsam und sehr bedacht. Noch heute stellt sie sich Tag für Tag dem Terror. Sie arbeitet im Toul-Sleng-Museum, einem der Orte, an denen das Grauen weiterlebt.

Der im Süden von Phnom Penh gelegene Komplex war das wichtigste Verhör- und Folterzentrum des Landes. Mit penibler Genauigkeit wurden alle Opfer fotografiert. Viele der Bilder hängen heute an den Wänden – Dokumente der Angst, der Panik, des Schmerzes. Auch die Eisen, mit denen hunderte von Gefangenen am Boden angekettet waren, sowie die Folterzellen und -werkzeuge sind zu sehen.

Zehntausende waren in Toul Sleng inhaftiert, 16.000 sind dort zu Tode gefoltert worden, ganze 7 haben die Tortur überlebt. Im letzten Jahr der Pol-Pot-Herrschaft waren etwa zwei Drittel der Insassen selbst Kader der Roten Khmer, darunter mehrere Minister – Paranoia einer Diktatur, die ihr Ende kommen sah. Wer in Toul Sleng nicht umkam, wurde zur Exekution nach Choeung Ek gebracht, auf die berüchtigten „Killing Fields“, etwa 15 Kilometer südwestlich der Hauptstadt.

Im Januar 1979 bereitete die vietnamesische Armee dem Spuk ein Ende. Doch es blieb ein langer Weg bis zum Frieden, der Weg zur Versöhnung ist auch heute noch weit. Die Roten Khmer bekämpften die neue Regierung vom Dschungel aus, und der Kalte Krieg war ihnen ein wertvoller Verbündeter. Die USA haben die Roten Khmer lange Zeit über Thailand unterstützt, um Vietnam zu schwächen. Und westliche Intellektuelle haben lange versucht, das Bild des verkannten tapferen Volkes zu pflegen, das eigenständig einen Weg zum Sozialismus sucht.

Für so viel Realitätsverlust hat Aki Ra nichts übrig. Der kleine, dynamische Mann ist zehn Jahre jünger als Siseroth, und er scheint das Trauma besser überwunden zu haben, denn ihm steht nicht diese tiefe Traurigkeit im Gesicht. Zu Beginn der Tragödie war er eines dieser formbaren Kleinkinder ohne Schulausbildung. Aki Ra wurde Kindersoldat, er war gerade zehn, als sie ihn rekrutierten. Zu der Zeit waren seine Eltern längst ermordet – der Vater, auch ein ehemaliger Lehrer, weil er bei der Arbeit im Straßenbau krank wurde, und die Mutter, weil sie einem lahmen alten Mann geholfen hatte. Mitleid war unter den Roten Khmer ebenso verpönt wie Bildung oder Krankheit.

„Mein erstes Gewehr“

„Mein erstes Gewehr war fast so groß wie ich selbst“, erinnert sich Aki Ra. Er hat lange gebraucht, um sich an das Gewicht und den Rückstoß zu gewöhnen. „Die größeren Soldaten haben mich ausgelacht, weil ich mich so unbeholfen angestellt habe. Ich gab mir die größte Mühe. Wir wussten doch lange gar nicht, was Spiel war und was Ernst.“ Der Ernst begann für Aki Ra, als die vietnamesische Armee Mitte der Achtzigerjahre seine Heimat im Norden Kambodschas erreichte. Da er als richtiger Kämpfer zu klein war, musste er Minen legen. „Ich hatte keine Ahnung von den Folgen meines Tuns, aber ich hätte ohnehin keine Chance gehabt, mich zu verweigern. Ein Leben galt nichts für die Roten Khmer.“

Aki Ra hatte Glück im Unglück. Er geriet in vietnamesische Gefangenschaft. Da er noch immer ein Kind ohne ideologische Überzeugung war und die Vietnamesen dringend neue Soldaten benötigten, wurde erneut rekrutiert. So fand sich Aki Ra über Nacht auf der anderen Seite der Front wieder. Einmal mehr musste er Minen legen. Und als sich die Vietnamesen wieder zurückzogen, machte sich die kambodschanische Armee seine Erfahrung zu Nutze.

„Mit dem Eintreffen einer UN-Friedenstruppe nahm mein Leben eine Wende zum Besseren“, sagt er heute. „Eine neue Welt eröffnete sich mir.“ Den UN-Truppen gehörten auch Schwarzafrikaner an, er hatte noch nie welche gesehen. „Manchmal kam ich mir vor wie auf einem anderen Planeten.“ Aber er erkannte seine Chance, lernte schnell Englisch und arbeitete als Übersetzer.

Unter dem Schild der UNO fand er seine eigentliche Berufung: Er lernte Minen zu räumen. Aus eigener Initiative gründete er schließlich das Landminen-Museum in Siam Reap. Es soll die Menschen wachrütteln, denn noch immer liegen etwa drei bis vier Millionen Minen im Land – in Wäldern und Sümpfen, auf wertvollen Ackern. „Der Bauer, der sein Feld bestellt, die Frau, die Feuerholz sammelt, Kinder, die ihr Vieh hüten, sie alle können jederzeit von einer Mine verstümmelt oder zerrissen werden.“ Und Aki Ra berichtet sogar, dass heute noch Minen gelegt werden – von Kriminellen oder ganz normalen Leuten, die im Streit um ein Grundstück neue Grenzen ziehen. Etwa 40.000 Menschen wurden bislang verkrüppelt.

Das Ende der Roten Khmer hätte der Beginn einer Auseinandersetzung mit der tragischen Vergangenheit sein können, doch Premierminister Hun Sen zeigte daran wenig Interesse. Er bot selbst den höchsten Kadern eine Amnestie und die Chance zur Rückkehr an. Davon machten viele Gebrauch, so der frühere Außenminister Ieng Sary, der Chefideologe Nuon Chea sowie der Wirtschaftstheoretiker Khieu Samphan. Sie führen heute, umgeben von Bodyguards, ein freies Leben. Nur zwei hochrangige Funktionäre befinden sich in Haft, der Kommandant von Toul Sleng, Kang Kek Ieu, genannt Duch, sowie der formelle Nachfolger Pol Pots, Ta Mok, genannt Der Schlächter.

Alte Seilschaften

Pol Pot selbst starb am 15. April 1998. Da sein Leichnam unverzüglich verbrannt wurde, wird spekuliert, ob es Herzversagen, Selbstmord oder Mord war – der Kopf des Regimes hätte den oberflächlichen Versöhnungskurs von Hun Sen stören können.

Das Vorgehen der Regierung ist der Mentalität im Land nicht fremd. Hun Sen und viele seiner Gefolgsleute gehörten in den Siebzigerjahren selbst zu den Roten Khmer. Alte Seilschaften und nationaler Stolz gehen Hand in Hand. So zogen sich die Verhandlungen über ein Tribunal jahrelang ergebnislos hin. Streitpunkt war vor allem die Amnestie für übergelaufene Kader, die sich schwerer Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht hatten.

Erst auf massiven Druck der UNO und ausländischer Geldgeber stimmte das Parlament im März vergangenen Jahres einem Tribunal zu und nahm das Amnestiegesetz zurück. Im Alltag steht die soziale Bewältigung der Verbrechen noch aus. In vielen Dörfern leben Täter und Opfer heute Seite an Seite. Für die Opfer ist das sehr belastend, denn kaum ein Täter zeigt ernsthafte Reue. Viele führen ein gewöhnliches Leben als Bauer oder Fischer. Manche haben sich sogar dem Buddhismus zugewandt und leben in den Klöstern. Mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontieren sie sich nicht. „Sie verdrängen einfach, was geschehen ist, und schieben die Verantwortung auf die Nächsthöheren ab“, sagt Siseroth resigniert. „Am Ende bleibt alles an Pol Pot hängen – und der ist tot.“