berliner szenen Post und Postmoderne

Klimaerwärmung auf CD

Kurz vor Ladenschluss steht ein Mann vor der Post und verteilt CDs mit rotem Cover. Er spricht eine Frau an, die es mit ihrem Paket eilig hat. Er muss sich ihr in den Weg stellen, damit sie ihm nicht entwischt. Der Mann fragt: „Fühlen Sie sich bedroht?“ „Von Ihnen?“ „Nein“, sagt der Mann behutsam und entschuldigt sich. „Ich meine sozial, politisch, medial. Haben sie keine Angst vor der Macht großer Konzerne, vor den Manipulationsmöglichkeiten der Medien, vor der Gewalt, die täglich, ganz subtil, durch Werbung, Nachrichten, Briefsendungen auf uns ausgeübt wird?“

„Ick hab nur Angst, meine Magisterarbeit nich mehr rechtzeitig abzuschicken, wenn Sie mir hier noch länger uffhalten.“ „Ich will Sie nicht aufhalten. Im Gegenteil. Ich will Sie wachrütteln. Sehen Sie, ich bin Humanist. Ich verteile hier Info-CDs an Menschen, die wie wir ein Unbehagen gegenüber der postmodernen Revolution verspüren.“ „Also, ick spür nichts.“ „Nicht einmal ein kleines bisschen Furcht, ein Schaudern vor den Machenschaften korrupter Manager, eine Beklemmung angesichts der unaufhaltsam voranschreitenden Klimaerwärmung, keine Unruhe vor dem Einschlafen, keine Ohnmachtsanfälle?“ „Höchstens intellektuell.“ Der Mann verzieht enttäuscht das Gesicht und blickt an der Frau vorbei, wie jemand, der sich in der Person geirrt hat und nun nach der Richtigen Ausschau hält. „Bekomm ick denn keine CD?“ „Erst wenn Ihr Leidensdruck höher ist“, sagt der Mann, ohne sie noch einmal anzusehen. Und während sie durch die Drehtür in den Schalterraum der Post geschleust wird, stürmt er auf ein Mädchen zu, das etwas verloren am Briefmarkenautomaten lehnt und für seine Mission empfänglicher zu sein scheint.

JAN BRANDT