Der Mann mit den Platten

Kurt Wehrs organisiert die Plattenbörse im Böcklerpark. Seit über 20 Jahren, morgen zum 250. Mal. Dort gibt es Progressive Rock, Ostrock, Krautrock bei Langhaarigen im Holzfällerhemd. Und Beratung für Verirrte, die einen Kuschelmix suchen

von KIRSTEN KÜPPERS

Die Verkäufer sitzen und stehen herum. Hängen hinter ihren Plattenkisten, langhaarig, mit Holzfällerhemd und Lederweste. Die Luft in der Halle des Statthauses Böcklerpark ist schlecht, das Neonlicht stumpf, es gibt auf dieser Messe weder Werbegeschenke noch Blumenschmuck. Ein adrettes Aussehen gilt den Händlern hier noch lange nicht als verkaufsförderndes Instrument. Nicht in dieser Branche.

Nein, in diesem Marktsegment geht es immer noch nur um die Ware an sich, um das Produkt. Denn das ist größer als das Leben. Das sind brennende Gitarren, Liebe und Tod und Herzen im Schmutz. Wo Schlagzeugsolos auf B-Seiten zur Wissenschaft werden und Männer zu Experten – wie jeden letzten Donnerstag im Monat, wenn im Statthaus Böcklerpark in Kreuzberg von 16 bis 20.30 Uhr Plattenbörse ist. Deswegen sind auch keine Frauen da. Nur die Freundin von einem. Ihr Freund ist der größte Deep-Purple-Fan der Stadt, sagen die anderen. „Er hat einfach alles von denen“, meint der Mann vom Nachbarstand, er guckt ziemlich beeindruckt.

Die Plattenbörse gibt es schon ewig. Ein paarmal ist sie umgezogen in der Stadt, von einer Halle zur nächsten. Aber morgen feiert die Börse ihr 250. Jubiläum. Und das ist einmalig auf der Welt. Dass es einen Ort gibt, wo einmal im Monat jeder kommen und Platten verkaufen kann. Wo einmal im Monat jeder Berliner theoretisch die Chance hat, die beste Schallplatte aller Zeiten und Länder zu finden. Ein Markt mit einem festen Datum im Kalender zum Merken. In Tokio soll es jetzt auch so was geben und natürlich in New York. Aber Berlin verfügt am längsten über diese Institution, seit über 20 Jahren. Und das ist doch mal wieder etwas, wo man merkt, dass diese Stadt schon immer ganz vornean war mit den Trends.

Der Mann, dem das zu verdanken ist, schwirrt in der Halle zwischen den Plattenkisten, Händlern und Kunden herum. Einer mit grauen, verwuschelten Haaren, der hier ein Wort sagt zu einem mit Peter-Maffay-Sortiment, mal da einem Beatles-Fan auf die Schulter klopft. Kurt Wehrs heißt er, 50 Jahre alt ist er jetzt. Und er sagt gleich, dass er sich die Haare nicht kämmen wird fürs Foto.

Kurt Wehrs hat auch einen Plattenladen an der Hufelandstraße in Prenzlauer Berg. Da steht er dann festgewachsen hinterm Tresen, und man kann besser reden mit ihm. Und wer wirklich einmal hören will, wie das Internet die kleinen Plattenläden kaputtmacht, für den ist Kurt Wehrs der richtige Mann. Einer, der zuverlässig in seinem Laden steht und trotzdem einen langen, grauen Schatten hinter sich herschleppt aus Rebellion und Freiheit, aus schönen Träumen, zerknautschten Lederjacken, alternativen Lebensentwürfen, aus schlimmen Zerwürfnissen, selbst gedrehten Joints, aus geplatzten Freundschaften und all den anderen Mühen, die ein Dasein für die Rockmusik so mit sich bringt. Jetzt, meint er und guckt zufrieden gegen die Wand, mache er gerade „ein bisschen keep slow“.

Wer so einen fragt, kriegt keine schnelle Antwort, das ist klar. Die Plattenbörse war seine Idee. Und wenn Kurt Wehrs sagen soll, wie es dazu kam, muss er irgendwo weit hinten anfangen. Weil alles mit allem zusammenhängt, die Zeit, dann Berlin, die diffuse Wildheit einer Generation.

Losgegangen ist es mit einer Jugend in der Lüneburger Heide auf dem Dorf, erzählt Kurt Wehrs. Irgendwann hat er begonnen, Rockmusiker in Schützenhallen auftreten zu lassen. „Little Woodstock“, hat die Lokalzeitung geschrieben. „Natürlich rutschte man dann auch in Berlin in die Alternativszenerie rein“, meint Wehrs. Es war Kreuzberg Anfang der 80er-Jahre. Und Wehrs gründete mit anderen das subkulturelles Zentrum „Mehringhof“. Dazu eine Firma für alternative Handelswege namens „Ökotopia“. Sie verkauften Bioweine, Kaffee aus Nicaragua, dachten sich die „Teekampagne“ aus. Und irgendwann gelangte man dann an den Punkt, an den man als junger Mensch leicht einmal kommt: „Wir brauchten Geld.“

Das Geld beschaffte Wehrs mit einer Idee, die er heute „die Einführung des Aldi-Prinzips in der Rock-Musik“ nennt: Fünf Mark bezahlen, fünf Bands sehen. Das Ganze im Audimax der FU. Wehrs engagierte für diese „FU-Rocknächte“ Bands wie „Ideal“ und „Interzone“, „die Leute rannten uns die Bude ein“. Irgendwann zerstritten sich dann alle Veranstalter der Rocknächte, und Kurt Wehrs fing an mit der Plattenbörse. „Ich habe immer versucht, das Kaufen und Verkaufen anders zu organisieren, eher so wie einen Viehmarkt im Mittelalter. Da gab es ja auch immer nebenbei Tanz und Vergnügen, Lust und Menschlichkeit. Das ist auch mein Anliegen: Das Ganze soll eine Lustgeschichte sein.“ Jetzt muss man wissen, dass auf den Plattenbörsen von Kurt Wehrs keineswegs großartig getanzt oder gemenschelt wird, aber als Idee kann man das ja durchaus mal formulieren. Und wie Wehrs gerade so am Reden und Erzählen ist und sagt, dass er sich gerne als „Mentor oder Moderator der Plattenszene Berlins“ sieht, da geht die Tür auf, und ein Kunde kommt.

„Habt ihr einen Kuschelmix?“, fragt der Mann. Und das ist ja wohl die größte Dreistigkeit, mit der man einem Plattensammler kommen kann, einem echten Musikkenner, der von seltenen Progressive-Rock-Scheiben aus den 70ern über extravagante Diskosoundtracks von Giorgio Moroder über Krautrock bis hin zu erlesenen Ostrock-Geschichten wirklich alles im Laden stehen hat, der vor ein paar Jahren eine Sammlung von über 40.000 Deutsch-Rock-LPs an das Musikarchiv der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main abgegeben hat und der noch mindestens 100.000 Platten im Lager verstaut hält. Dass man so einem also mit der Frage nach einer banalen Zusammenstellung von Kuschelmusik kommt, das ist schon was, wo man nicht weiß, wie wird der jetzt reagieren.

Kurt Wehrs guckt ein bisschen entgeistert. „Nein, so was führen wir nicht“, sagt er frostig. Dann zieht er eine Platte aus dem Regal: „Hör dir das mal an! Das wird dir gefallen.“ Er lächelt. Es ist das Lächeln eines Krokodils. Es ist die Geste des Geistlichen, der einen armen Sünder auf den rechten Weg bringt. Tatsächlich kauft der Mann die Platte und geht. Und damit ist Kurt Wehrs wieder bei seinem Lieblingsthema angekommen: dass so eine Beratung im Internet nicht möglich ist und trotzdem die kleinen Plattenläden sterben, weil alle daheim über ihren Computer einkaufen. Es ist eine Schande.

Am 27. Februar findet die Plattenbörse im Statthaus Böcklerpark zum 250. Mal statt. Kurt Wehrs feiert diesen Geburtstag am 6. und 7. März zusätzlich mit speziellen „Sammlertagen“ im Park Center in Treptow. Alle sollen kommen, der Eintritt ist frei.

Der sauber gescheitelte ältere Herr wird auch da sein. Er verkauft amerikanische Bossa-Nova-Platten aus den 60ern. Mit seinen Plattenkisten steht er stets in der Halle im Böcklerpark. „Ich bin eigentlich Raumausstatter von Beruf“, meint er, und man fragt sich, wo einer Räume ausstatten kann zu solchen Bedingungen, dass er immer wegkann donnerstags zur Plattenbörse, seit mehr als 20 Jahren.