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sternzeichen dachs von WIGLAF DROSTE

Im Herbst 2003 aß ich zum ersten Mal in meinem Leben Dachs. Das geschah nicht aus Neugier und schon gar nicht auf Wunsch – ich bekam ihn einfach vorgesetzt. Auch der Mann, der ihn mir kredenzte, hatte in dreißig Jahren als Koch erstmals beruflich mit einem Dachs Bekanntschaft gemacht. Ein Bauer brachte ihm das Tier, nachdem er es erschoss; der Dachs hatte den Hund des Bauern, als der ihn in seinem Bau aufstöberte, sauber eingebuddelt, denn Dachse sind gewieft. Der Flinte des Bauern war er auf seiner anschließenden Flucht allerdings nicht entronnen.

Auf den Teller kam der Dachs als Ragout. Ich schnupperte etwas misstrauisch. Doch die Maxime, dass man jedes Lebensmittel zumindest probieren kann, hielt auch dieser Prüfung stand. Dachse sind äußerst reinliche Tiere, das vorliegende Exemplar war mit Liebe und Kochkunst traktiert worden, und dem Mann, der es zubereitet hatte, vertraue ich ohnehin blind. Seit jenem Tag weiß ich: Dachs ist essbar. Und doch meine ich, eine gewisse Zähheit und Bitterkeit verspürt zu haben – die Geschmack gewordene Abneigung des Dachses dagegen, von Menschen aufgegessen zu werden? Oder war das nur eine meinem eigenen Widerwillen geschuldete Einbildung? Mir war nicht ganz wohl beim Dachsverzehr.

Dachse kenne ich aus Naturfilmen, aus Fabeln und Märchen, wo sie Meister Grimbart heißen – und aus Hans Falladas Geschichte „Fridolin, der freche Dachs“. Fallada kannte sich mit Dachsen aus; auf seinem Hof in Carwitz hatte es der Schriftsteller mit einem Dachs zu tun, den er jahrelang – wenn auch vergeblich – bejagte, weil der des Nachts die Maisfelder des Schriftstellers heimsuchte.

Ich las das Buch mit Freuden. „Das fand er am schönsten: ganz allein mit sich zu sein, tief im stummen, stillen Schoß der Erde. Darin war er ein richtiger Dachs, der ja unter allen Tieren das einsiedlerischste, menschen- und tierscheueste Geschöpf ist“, schrieb Fallada über seinen Titelhelden, und spätestens ein paar Sätze weiter hatte er mich ganz: „Das ist auch eine besondere Eigenschaft der Dachse, daß sie jederzeit und beliebig lange schlafen können.“

Die Sache lag so offen zutage wie ich rüsselnd und schnorchelnd im Bett: Ich war Sternzeichen Dachs, keine Frage. Wie anders als nach Art des Dachses wäre beispielsweise der Weihnachten/Silvester/Neujahr genannte Jahresendterror zu überstehen gewesen? Genau: Ich grub mich ein und verschlief die überflüssige und aufdringliche Angelegenheit. Daraufhin von menschenauflauffixierten Personen ins Kreuzverhör genommen und nach Art der RAF peinlich befragt: Was bist du – Mensch oder Dachs?, gab ich brummend Auskunft: Beides, bevorzugt aber Letzteres, zumindest temporär. Und drehte mich zügig wieder dem Schlafe zu.

Falladas Dachs hatte mehr Glück als der, von dem ich aß – und er hat das letzte Wort in seiner Geschichte: „ ‚Ich bin nicht umzubringen. Das ist das einzig Gute an dieser verkehrten Welt, daß sie nie ohne mich, den Dachs, sein wird.‘ Sprach’s und bot die fette Trommel seines Bauches ächzend der Sonne dar.“ Du sollst, Gevatter Dachs, nicht weichen – doch Mitmensch, so du nervst, dich schleichen.

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