Die Schattenseiten von Paris

Die wahre Kulturhauptstadt Europas gastiert derzeit in Wolfsburg: Das dortige Kunstmuseum ist die einzige Deutschland-Station der großen Brassaï-Schau des Pariser Centre Pompidou / Arrangierte Aufnahmen mit authentischer Wirkung

aus Wolfsburg Tim Ackermann

Diese Fotografien erzählen bekannte Geschichten: Das modisch gekleidete Paar im Bistro hat seinen Kaffee ausgetrunken und flirtet nun hemmungslos. Kokett hat die junge Frau ihren Lockenkopf in den Nacken geworfen und strahlt ihren Partner an. Der Mann mit den akribisch pomadisierten Haaren hat seinen Arm um die Taille der Geliebten gelegt und wird sie im nächsten Augenblick küssen. Er sitzt zwar mit dem Rücken zum Betrachter, doch die verspiegelten Wände des Bistros reflektieren sein Gesicht.

Ein klassisches Parisbild: Das Foto von Brassaï (1899-1984) aus dem Jahre 1932 wurde unter dem Titel „Couple d‘amoreux dans un petit café“ bekannt. Zur Zeit ist es mit zahlreichen anderen Fotografien, Zeichnungen und Fotogravuren des ungarischen Künstlers im Kunstmuseum Wolfsburg zu sehen. Vom Centre Georges Pompidou im Frühjahr 2000 konzipiert, ist die Ausstellung „Brassaï – Das Auge von Paris“ die erste große Retrospektive des Fotografen. Es habe einige Überzeugungsarbeit gebraucht, um die Ausstellung zeigen zu dürfen, erzählt Annelie Lütgens vom Kunstmuseum. „Die Witwe des Fotografen hätte die Bilder lieber in Berlin gesehen.“

Das Kunstmuseum nutzt jetzt die Gelegenheit und inszeniert genüsslich den Hauch von savoir-vivre, den Brassaïs Paris-Aufnahmen ausstrahlen: Die Wände der labyrinthartigen Räume sind in dezentem Rot und Grau gehalten. Der Platz ist begrenzt, wie auf den schmalen Bürgersteigen der französischen Hauptstadt. „Wir wollten einen intimen Charakter schaffen“, erklärt Lütgens. Irgendwo spielt ein Tonband in einer Endlosschleife die Jazzschnulze „Petite Fleur“. Die anrüchige Atmosphäre ist künstlich erzeugt, wirkt aber nicht aufgesetzt. Sie erinnert daran, dass Brassaï selbst mit seinen Fotografien das Paris-Klischee von der „Stadt der Liebe“ mitgeprägt hat.

1924 war der Ungar als Journalist in die Seine-Metropole gekommen. Vom Nachtleben fasziniert, griff er zur Kamera. Der Zyklus „Paris de nuit“, den er 1932 als Buch veröffentlichte, machte ihn berühmt: Er fotografierte feiernde Nachtschwärmer in Cafés, verlassene Treppen am Montmartre und die Prostituierten im Bordell „Chez Suzy“.

In der Ausstellung sind mehrere Werkgruppen Brassaïs versammelt. Neben den „Paris de nuit“-Bildern und der Serie „Caméra in Paris“ – für die er Ballonverkäuferinnen und Gemüsehändlern hinterherspionierte – beeindrucken die ab 1933 entstandenen Aufnahmen von Graffiti. Es sind ganz einfache Ritzzeichnungen auf Mauerwerk: Herzen, Geschlechtsteile, politische Statements. Der Fotograf hat als erster diese typisch städtische Ausdrucksform künstlerisch gewürdigt.

Der besondere Charakter der Brassaï-Fotografien kommt jedoch in den nächtlichen Außenaufnahmen immer noch am besten zur Geltung: Es sind gebaute Bilder – Kompositionen, in denen der Künstler mit Licht und Schatten experimentiert.

Im Gegensatz zum Zeitgenossen Henri Cartier-Bresson, der vor allem tagsüber fotografierte, konnte Brassaï bei seinen nächtlichen Streifzügen nicht einfach im „entscheidenden Moment“ auf den Auslöser drücken. Wegen der beschränkten Lichtverhältnisse musste er mit dem Stativ arbeiten, was recht zeitaufwändig ist. Die Motive durften sich über eine Minute nicht bewegen: Es sind arrangierte Aufnahmen – mit authentischer Wirkung.

Der Fotograf hat diese Geschichten nicht erfunden. Als literarischer Kenner flanierte er in der Tradition Baudelaires durch die nächtlichen Gassen. Sein Verdienst ist es, zu den großen Erzählungen der französischen Hauptstadt als erster die passenden Fotos geschossen zu haben.

„Brassaï – Das Auge von Paris“Kunstmuseum Wolfsburg, tägl. außer Mo, 11 bis 18 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr. Bis 21. 3. Katalog, 28 Euro